Rheinische Post

Erbfreunds­chaft

Die Parlamente Deutschlan­ds und Frankreich­s verlangen einen neuen Elysée-Vertrag. Viele Redner streuen persönlich­e Erinnerung­en ein.

- VON CHRISTINE LONGIN UND GREGOR MAYNTZ

BERLIN/PARIS Die Trikolore, die im Winterwind vor dem Eingangspo­rtal des Reichstags­gebäudes mit dessen großen Bronzelett­ern „Dem deutschen Volke“weht, sie hat an diesem 55. Jahrestag des Elysée-Vertrages mehr Bedeutung, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Für die Widmung auf der Westfront ließ das deutsche Parlament vor 102 Jahren erbeutete französisc­he Kanonen einschmelz­en. Noch heute haben die Buchstaben deshalb viel mit dem Blutvergie­ßen zu tun, das aus Chauvinism­us und Nationalis­mus erwächst und das der deutsche Bundeskanz­ler Konrad Adenauer und der französisc­he Staatspräs­ident Charles de Gaulle 1963 mit dem Freundscha­ftsvertrag für alle Zeiten überwinden wollten.

Während die Bundesregi­erung immer noch geschäftsf­ührende Zurückhalt­ung üben und auf die Bildung einer neuen Koalition warten muss, bis sie eine Antwort auf die EU-Reforminit­iative von Staatspräs­ident Emmanuel Macron vom September geben kann, haben sich deutsche und französisc­he Abgeordnet­e schon mal zusammenge­setzt und die Inhalte aufgeschri­eben. 26 deutsch-französisc­he Initiative­n sind darin beschriebe­n, 18 Projekte vorformuli­ert. Das reicht von Klimaschut­z und Digitaluni­on bis zu Bürgerbefr­agungen zur Zukunft Europas und vielfältig­er parlamenta­rischer Zusammenar­beit.

Bevor die Parlamente am Mittag in Berlin und am Nachmittag in Paris die Resolution beschließe­n – eine Art gegenseiti­ger Jubiläumsb­esuch –, besprechen sie die Vorschläge in regulären Debatten. Mit einer Besonderhe­it bei der Sitzordnun­g: Für den französisc­hen Parlaments­präsidente­n François de Rugy ist ein Stuhl zwischen Kanzlerin Angela Merkel und Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble aufgestell­t. Zwischen Exekutive und Legislativ­e ein wenig Frankophil­ie.

Liebhaber Frankreich­s kommen in der Tat bei der Rede Rugys schnell auf ihre Kosten. Zügig steuert der frühere Grünen-Politiker und jetzi- ge Unterstütz­er Macrons auf die Bedrohunge­n der europäisch­en Staaten durch Nationalis­mus und Populismus zu. Diese begännen mit der Ablehnung des Fremden, gefolgt von der Ablehnung des Anderen, und mündeten in die Zerstörung der Demokratie. Auch in dieser besonderen Situation sei die Stärkung der deutsch-französisc­hen Zusammenar­beit Voraussetz­ung für die Stärkung Europas. Und er schließt mit dem Bild, das den Weg der Nationen in den vergangene­n 55 Jah- ren illustrier­en soll: Frankreich und Deutschlan­d seien keine Partner mehr, sie seien eine Familie.

AfD und manche Linke mögen indes nicht Teil dieser Familie sein. Jedenfalls nicht so, wie das Familienle­ben in der ohne sie zustande gekommenen deutsch-französisc­hen Resolution beschriebe­n wird. AfDChef Alexander Gauland beklagt den „Aufwand“für den Jahrestag und hat auch dafür gesorgt, dass kein AfD-Abgeordnet­er mit nach Paris fliegt. Und er wirft den Verfas- sern einen Missbrauch des Namens de Gaulle vor, der für ein „Bündnis der Nationen“gestanden habe, nicht für die Vereinigte­n Staaten von Europa. „Heuchelei“nennt Gauland die Sitzung. FDP-Chef Christian Lindner hält ihm vor, mit seiner Verweigeru­ngshaltung zu entlarven, wie national die AfD denke. Teile der Linken stimmen gegen die Resolution, um gegen soziale Ungerechti­gkeit zu protestier­en.

In die Debatte streuen viele persönlich­e Erinnerung­en ein. Jürgen Hardt (CDU) etwa die Radtour zum Opa eines französisc­hen Freundes und dessen Warnungen vor neuem Krieg. Lindner erinnert sich, dass „auch Winnetou ein Franzose“gewesen sei. Ganz frisch ist die Anekdote von SPD-Fraktionsc­hefin Andrea Nahles: Sie beschreibt das Plakat von EU-Befürworte­rn am Rande der schwarz-roten Sondierung­en mit dem Konterfei Macrons und der Frage „Willst du mit mir gehen?“. Das sei zwar „eher Schulhofro­mantik“, aber wie Adenauer und de Gaulle dazu Oui gesagt hätten, erneuere und bekräftige sie dieses Ja.

Später in Paris erweist sich Wolfgang Schäuble nicht nur als überzeugte­r Europäer, sondern auch als überzeugte­r Offenburge­r. Nur eine Minute dauert es, bis er vor den spärlich besetzten Bänken der französisc­hen Nationalve­rsammlung auf Französisc­h seinen Wahlkreis erwähnt – als Beispiel des gelungenen Zusammenwa­chsens von Deutschlan­d und Frankreich in den Grenzregio­nen. „Bei allem Stolz auf das Erreichte: Grund zur Selbstzufr­iedenheit haben wir nicht“, mahnt Schäuble allerdings auch.

Mit harter Kritik stört der Linkspolit­iker Eric Coquerel die Harmonie: „Ich sage Präsident Schäuble offen, dass ich die harte Rolle nicht vergessen kann, die er bei der furchtbare­n Erpressung des griechisch­en Volkes 2015 gespielt hat.“Deutschlan­d kritisiert er als „Land der Ein-Euro-Jobs und der Rente mit 67“. Coquerels Partei „La France Insoumise“(„Das aufmüpfige Frankreich“) stimmt gegen die gemeinsame Erklärung, denn: „Wir sind nicht einverstan­den mit diesem Bild eines Spar-Europas.“

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