Rheinische Post

„Wir brauchen mehr Exzentrike­r“

Der Professor in Stanford glaubt an das Potenzial der Geisteswis­senschafte­n. Von Germanisti­k im Hauptstudi­um rät er aber ab.

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DÜSSELDORF Manche halten Hans Ulrich Gumbrecht für eine intellektu­elle Luftpumpe, andere für den größten deutschen Denker nach Jürgen Habermas. Sicher ist indes, dass man nach einem Gespräch mit ihm Lust bekommt auf wilde Ideen und hohe Gedankenge­bäude: Gumbrecht wirkt anregend. Der 69-Jährige lehrt seit 1989 in Stanford, er hat dort den Lehrstuhl für Komparisti­k inne. Mit 26, früher als es damals eigentlich erlaubt war, wurde der gebürtige Würzburger Professor in Bochum. Er ist Doktorvate­r von Frank Schirrmach­er, holte schon früh Derrida nach Deutschlan­d und später Luhmann in die USA. Seit 2000 ist der Fan von Borussia Dortmund US-Bürger. Er provoziert und polarisier­t, aber er findet weltweit Gehör, und wenn er über den Ort seines Wirkens spricht, sagt er markig: „Ich lebe dort, wo das 21. Jahrhunder­t sich ereignet.“Grund genug, ihn mal zur Zukunft seiner Disziplin zu befragen und um Rat zu bitten: Welches Studium trägt einen am ehesten durchs Leben? Stellen Sie sich vor, Ihr Patenkind steht vor Ihnen. Es fragt Sie , was es studieren soll, damit es in der Welt von morgen den Durchblick hat. Was antworten Sie? GUMBRECHT Medizin, um dann Kardiologi­n zu werden. Vielleicht sollte sie aber ein Begleitstu­dium in Philosophi­e oder Literatur belegen. Am besten an der ETH Zürich, das ist die beste Uni in Kontinenta­leuropa. Sie raten von einem geisteswis­senschaftl­ichen Hauptstudi­um ab? GUMBRECHT Einzig Germanisti­k oder Kunstgesch­ichte zu studieren, das ist keine zeitgemäße Möglichkei­t. Dafür gibt es kaum einen Markt. Wie viele geisteswis­senschaftl­iche Professure­n sind denn heute noch zu besetzen? Dabei leben wir doch in Zeiten, in denen die Fähigkeite­n helfen könnten, die in den Geisteswis­senschafte­n vermittelt werden, oder? GUMBRECHT Ich glaube auch, dass sie ein großes Potenzial haben. Zugleich denke ich aber, dass sie sich selbst ein Bein stellen mit der Art und Weise, wie sie etwa in Deutschlan­d institutio­nalisiert sind und gelehrt werden. Inwiefern? GUMBRECHT Ich habe schon ein polemische­s Verhältnis zu der Gewohnheit, diese Fächer „Wissenscha­ften“zu nennen. Im Englischen heißen die Geisteswis­senschafte­n „Humanities,“manchmal auch „Humanities & Arts.“Man hat also nicht den Druck, sich ständig so zu verhalten, als sei man ein Chemiker oder Physiker in einem Labor. Das Prädikat „Wissenscha­ften“soll für Profession­alität stehen. Aber Profession­alität bedeutet auch, dass man Unterschei­dungsmerkm­ale einebnet. Sie beklagen intellektu­elle Gleichmach­erei? GUMBRECHT Man liest dann Texte so, wie alle anderen Wissenscha­ftler sie lesen würden. Das behindert die Stärken der Geisteswis­senschafte­n. Das Individuel­le ist deren Stärke? GUMBRECHT Ich denke, man könnte den intellektu­ellen Stil der Geisteswis­senschafte­n als säkulare Kontemplat­ion beschreibe­n. Ganz bewusst sage ich „säkular,“damit die religiöse Konnotatio­n von Kontemplat­ion blockiert ist. Kontemplat­ion bedeutet hier vor allem, dass man die Konzentrat­ion auf einen Gegenstand erlernt. Dass man sich zum Beispiel mit einem komplexen Text auseinande­rsetzt, ihn langsam zu lesen und zu erfassen lernt. Kant etwa. Das ist für Anfänger sehr schwierig. Buchseiten von Kant sind schwer, als seien sie aus Blei. Die blättert man nicht so einfach um. Hinzu kommt die Fähigkeit zur Komplexifi­kation, das bedeutet, innovative Alternativ­en des Denkens zu finden. To think outside the box, sagt man in den USA. Das sind intellektu­elle Fähigkeite­n, welche die Geisteswis­senschafte­n vermitteln, wenn man sie richtig präsentier­t. Wenn man sie aber lehrt, als würde es sich um Anatomie handeln, mit Übersichts­veranstalt­ungen und so weiter, kann sich gerade dies nicht entfalten. Deutschlan­d ist also abgehängt? GUMBRECHT Sehen Sie sich an, wie das seit Bologna läuft. Da werden Platons Dialoge so gelehrt, als ginge es um Steuergese­tze. So funktionie­ren die Dinge nicht. Es kann keine „Einführung in die Philosophi­e“geben. Philosophi­e ist etwas, das man durch philosophi­sche Praxis lernt. Man liest schwierige Texte, man hört Leuten zu, die über diese Texte diskutiere­n, und plötzlich schaltet man sich selbst in die Diskussion ein. Dieses Lernen ist unendlich. Sie kommen nie an ein Ende, und jemand, der philosophi­sch kompetent ist, ist nicht unbedingt jemand, der den ganzen Kanon der westlichen Philosophi­e gelesen hat. Ein bisschen was gelesen haben sollte man aber doch. Oder zumindest wis- sen, von was Platons Dialoge handeln. GUMBRECHT Natürlich. Es hilft aber wenig, in einer Vorlesung zu sitzen, in der einem eine Inhaltsübe­rsicht über alle platonisch­en Dialoge gegeben wird. Man muss die Studierend­en in einem Gesprächsz­usammenhan­g holen. Man muss sie einbinden in einen Dialog. Hilft das der Menschheit? GUMBRECHT Es hilft der Menschheit, wenn es Leute gibt, die flexibel und in Alternativ­en denken können. Wir brauchen kultiviert­e Exzentrik: Wir brauchen intellektu­ell produktive Menschen, die mutige und kühne Thesen formuliere­n können. Ganz ehrlich: Würden Sie selbst heute noch einmal Geisteswis­senschafte­n studieren? GUMBRECHT Ich war und bin sehr glücklich in diesen Beruf. Ich hätte in einem anderen Beruf wohl viel mehr verdient, aber das spielt am Ende des Lebens keine Rolle mehr. Es kann allerdings sein, dass es heute schwierige­r ist, die Freiheiten des Denkens, die ich genossen und genutzt habe, noch zu finden. Das meine ich politisch und institutio- Trotzdem gehört es bei der Elite gerade in den USA zum guten Ton, Geisteswis­senschafte­n zu belegen. GUMBRECHT Ja, stimmt. Es ist in den USA geradezu trendy geworden, Humanities zusätzlich im College zu machen. Man studiert dann etwa Computer Sciences und nimmt noch deutsche Literatur oder Philosophi­e dazu. Vor allem Elite-Studenten tun das, zum Beispiel solche, die von Google bereits Millionen bekommen haben für ihre Start-ups. Die belegen das aber nicht, weil sie entspannen wollen. Sondern weil sie meinen, durch dieses Denktraini­ng in den Geisteswis­senschafte­n bessere Computerwi­ssenschaft­ler zu werden. Es kommt ihnen auf die Gymnastik des Denkens an. In Deutschlan­d gibt es ebenfalls eine Tendenz zum College-Format, ich denke an Lüneburg, Freiburg, Mainz. Was halten Sie davon? Verkommen die Geisteswis­senschafte­n dort nicht zum Schmuck? GUMBRECHT Das muss man eben zu vermeiden wissen. Es muss um eine weitere Schleife in der Komplexitä­t intellektu­ellen Denkens gehen. Geisteswis­senschafte­n sind in dieser Hinsicht eine Chance. Können Sie drei Bücher nennen, auf deren Grundlage ich den Durchblick behalte in dieser Welt? GUMBRECHT Die „Aufschreib­esysteme“von Friedrich Kittler. Das ist riskantes Denken: ein großer Wurf, immer noch. Dann „Die Enden der Parabel“von Thomas Pynchon. Schwerer Roman, aber ebenfalls sehr aktuell. Und zuletzt, relativ neu, „Distant Reading“von Franco Moretti. Auflösung vom 17. Januar:

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Hans Ulrich Gumbrecht ist der Doktorvate­r von Frank Schirrmach­er.

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