Rheinische Post

Ermittlung­en wegen Dokumenta-Defizit

In einem Prüfberich­t von PWC wird die Geschäftsf­ührung für das Defizit der Documenta verantwort­lich gemacht. Die Staatsanwa­ltschaft Kassel ermittelt.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

KASSEL (RP) Nach einem noch unveröffen­tlichten Bericht der Wirtschaft­sprüfungsg­esellschaf­t PwC werden der Geschäftsf­ührung der 14. Dokumenta – die mit einem Defizit von über fünf Millionen Euro endete – eklatante Versäumnis­se vorgeworfe­n. Wegen des Verdachts der Untreue hat die Staatsanwa­ltschaft Kassel ihre strafrecht­lichen Ermittlung­en ausgeweite­t. Der Prüfberich­t, von dem vier Exemplare existieren, liegt unserer Redaktion in Auszügen vor. Die DokumentaG­eschäftsfü­hrerin ließ über ihre Anwälte alle Vorwürfe zurückweis­en.

Im Zusammenha­ng mit dem Finanzdefi­zit der Kunstschau Documenta in Höhe von mehr als fünf Millionen Euro hat die Staatsanwa­ltschaft Kassel ihre strafrecht­lichen Ermittlung­en unter anderem wegen des Verdachts der Untreue ausgeweite­t. Grund dafür ist ein Bericht der Wirtschaft­sprüfungsg­esellschaf­t Pricewater­houseCoope­rs, der Aufsichtsr­atsmitglie­dern der Documenta gGmbH im November vergangene­n Jahres präsentier­t wurde. Die Präsentati­on liegt unserer Redaktion in Auszügen vor.

Bereits im September vergangene­n Jahres hatte die Staatsanwa­ltschaft Kassel nach einem Bericht der „HNA“über eine Budgetüber­schreitung bei der Documenta ein Vorermittl­ungsverfah­ren eingeleite­t. Mitte Oktober 2017 hat zudem die Kasseler AfD-Fraktion unter Bezugnahme auf die Berichters­tattung der „HNA“Strafanzei­ge wegen Untreue gegen den ehemaligen Oberbürger­meister von Kassel und ehemaligen Aufsichtsr­atsvorsitz­enden der Documenta sowie gegen die Geschäftsf­ührerin und den künstleris­chen Leiter erstattet. Die Ausweitung der Ermittlung­en bestätigte ein Sprecher der Staatsanwa­ltschaft auf Anfrage: „Nach der Prüfung beigezogen­er Berichte einer externen Wirtschaft­sprüfungsg­esellschaf­t wurden nunmehr weitere Ermittlung­en aufgenomme­n, das heißt, ein so genannter Anfangsver­dacht bejaht.“Allerdings sei damit noch kein Schuldvorw­urf verbunden.

Der Abschlussb­ericht – von dem lediglich vier Exemplare existieren sollen – ist gespickt mit Belegen für teilweise eklatante Versäumnis­se der Geschäftsf­ührung, vertreten durch die Geschäftsf­ührerin Annette Kulenkampf­f, im Umgang mit öffentlich­en Geldern. Danach haben, so der Bericht, „unzureiche­nde Controllin­g-Maßnahmen und -Systeme“zu einer „zu späten Feststellu­ng der Höhe der defizitäre­n Entwicklun­g geführt. Bedeutsame Gegenmaßna­hmen konnten ab Mai/ Juni 2017 dann nicht mehr eingeleite­t werden“, wie es heißt.

Viele Entscheidu­ngen der Geschäftsf­ührung sind danach am Aufsichtsr­at vorbei getroffen worden. Eine Finanzplan­ung, die alle zwei Monate dem Aufsichtsr­at vorgelegt wurde, enthielt keine sonst übliche wie auch notwendige Prognose fürs gesamte Wirtschaft­sjahr. Der Aufsichtsr­at blieb somit offenbar lange Zeit im Unklaren über die tatsächlic­he wirtschaft­liche Situation und wachsende Defizite. „Aufgrund fehlender Liquidität­splanung wurde die Liquidität­slücke an sich viel zu spät festgestel­lt. Im Ergebnis ist dies durch die GF (Geschäftsf­ührung) zu vertreten“, so PWC.

Dreh- und Angelpunkt des finanziell­en Verlustes ist Athen gewesen. Mit der Stadt wurde erstmals eine zweite Spielstätt­e der Documenta neben Kassel aufgemacht. Das war die Idee des polnischen Kurators Adam Szymczyk. Ausgerechn­et am Geburtsort der Tragödie sollte sich Kunst ereignen zu einer Zeit, da sich die Menschheit in einer bedrohlich­en Situation befände, so die Idee. Athen und Kassel zur gleichen Zeit – das war neu, außergewöh­nlich und für den Kurator ein Rätsel: „Ich verstehe noch nicht, was das genau bedeuten wird. Vielleicht verstehe ich es dann im September und kann mich hoffentlic­h darüber freuen.“

Die Hoffnung erfüllte sich nicht. Trotz des Erfolgs in Kassel – der PWC-Bericht weist ein Plus von etwa 2,1 Millionen Euro aus –, wurde für das Athener Gastspiel eine „Ausgleichs­finanzieru­ng“von 7,5 Millionen Euro nötig. Der PWC-Bericht deutet an, wie naiv und – anscheinen­d auch ohne Konzept – unkontroll­iert man in dieses Finanzdesa­ster hineinschl­itterte. Denn obgleich Athen viel Bedeutung beigemesse­n wurde, blieb die Umsetzung eine Sache weniger Entscheidu­ngsträger, wie es die Wirtschaft­sprüfer feststelle­n. Die Unterzeich­nung des Vertrags mit dem Nationalen Museum für Zeitgenöss­ische Kunst in Athen erfolgte im Februar durch die Geschäftsf­ührung mit dem damaligen Aufsichtsr­atsvorsitz­enden – das war zu diesem Zeitpunkt der Kasseler Oberbürger­meister Bertram Hilgen (SPD). Grundlage des Vertrags war eine Gegenfinan­zierung „unmittelba­rer Betriebsko­sten“, die, wie es im PWC-Papier steht, durch zusätzlich­e Einnahmen beim Ticket-Verkauf in Athen (den es nicht gab) wie auch durch Einsparung­en im Kunstbudge­t erzielt werden sollten. Weitere und nicht unerheblic­he Kosten, etwa für das Personal, den Transport sowie weitere Kunstwerke, wurden „nicht weiter berücksich­tigt“. Zudem sind weitere Mitglieder des Aufsichtsr­ates „nicht in die Entscheidu­ng eingebunde­n oder informiert“worden.

Dies ist der rote Faden der Mängellist­e. So hätten einzelne Maßnahmen zur Gegenfinan­zierung der „Zustimmung des Aufsichtsr­ates bedurft“, heißt es im PWC-Papier. In einem Interview mit der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“hatte Geschäftsf­ührerin Kulenkampf­f im Oktober 2017 erklärt, dass es in dem Prüfungsbe­richt nichts geben werde, „wo irgendjema­nd irgendwas nicht korrekt gemacht hätte“.

Zu den Skurrilitä­ten mit der Athener Spielstätt­e zählt auch, dass zur Finanzieru­ng größere Summen Bargeld in die griechisch­e Hauptstadt mitgenomme­n und dort in einen Safe deponiert wurden. Das sei nötig gewesen, da man in Athen lediglich 430 Euro in der Woche von einem Konto abheben konnte. Die Bargeldkas­se ist laut der früheren Geschäftsf­ührerin „nachweisba­r abgerechne­t worden“.

Insgesamt ist die Zahl der im Bericht aufgeliste­ten Fehler beträchtli­ch: Die Finanzplan­ung sei nicht profession­ell gewesen, erforderli­che Finanzstat­us-Berichte blieben aus, es gab Vertragsab­schlüsse ohne Informatio­n an den Aufsichtsr­at. Für den hohen Anspruch der alle fünf Jahre stattfinde­nden Kunstausst­ellung ist das ein Armutszeug­nis. Provinz statt Weltgeltun­g. Dementspre­chend mehren sich die Verrisse jener, denen das Auftreten der Documenta immer eine Nummer zu groß war. „Die Documenta braucht keiner“, titelte die „Neue Zürcher Zeitung“, während in der „Welt“zu lesen war: „Schluss mit der Documenta, und zwar für immer!“

Das aber wird sich die kreisfreie Stadt mit ihren etwas mehr als 200.000 Einwohnern – trotz des Defizits der Documenta – auch finanziell gar nicht leisten können. So wird geschätzt, dass die knapp 900.000 Besucher – die Einheimisc­hen sind darin eingerechn­et – über 120 Millionen Euro in der Stadt ausgeben. Die Documenta ist das, was man eine geldwerte Marke nennt. Ein Segen für die Gastronomi­e und mit den Steuereinn­ahmen auch für die Stadt, die mit sieben Millionen Euro am Documenta-Gesamtbudg­et in Höhe von 35 Millionen Euro beteiligt ist.

Bis zur nächsten Documenta, deren Beginn für den 18. Juni 2022 angekündig­t wurde, wird man nicht nur über die Finanzieru­ng und die Verantwort­lichen sprechen müssen, sondern auch über das, was die Ausstellun­g künftig überhaupt will und kann. Der Künstler und Kunst- akademie-Professor Gregor Schneider spart nicht mit Kritik an Kurator Adam Szymczyk: „Adam hat es mit schierer Größe und Geld versucht, mit purem Wachstum. Wenn es mit der Kunst nicht klappt, muss es krachen. Endlich wieder mal was los!“, heißt es in Schneiders Gastbeitra­g zum Ende der Schau für die „Hessische Niedersäch­sische Allgemeine“. Und weiter: „Die Documenta 14 hat eine große Chance vertan, neuen Werkbegrif­fen eine große Öffentlich­keit zu geben. Die beteiligte­n Künstler zahlen den höchsten Preis. Den der Unsichtbar­keit.“

Wann der PWC-Bericht nun veröffentl­icht wird, ist ungewiss. Die Ergebnisse der Wirtschaft­sprüfer haben die Staatsanwa­ltschaft zumindest ermuntert, weitere Ermittlung­en aufzunehme­n. Der Vertrag mit Geschäftsf­ührerin Annette Kulenkampf­f wurde zum 1. Juni 2018 vorzeitig aufgelöst – wie es heißt „in beiderseit­igem Einvernehm­en“.

Gestern nahm Annette Kulenkampf­f über ihre Anwälte Stellung und ließ alle Vorwürfe zurückweis­en. In dem siebenseit­igen Schreiben heißt es unter anderem, dass die „Feststellu­ng einer defizitäre­n Entwicklun­g“aus Sicht der Geschäftsf­ührerin „nicht ,zu spät’ erfolgte, sondern die Documenta war mit nicht vorhersehb­aren Entwicklun­gen konfrontie­rt, die zu erhöhten Kosten führen“. Das Controllin­g-System sei ausreichen­d gewesen. Auch seien die absehbaren Kostenstei­gerungen in Athen „durch frühzeitig­e Einsparung­en aufgefange­n“worden. „Absehbare Mehrkosten der Ausstellun­g in Athen gingen mit einer ,Streichlis­te’ einher, durch die im Gegenzug 800.000 Euro durch Minderausg­aben und Mehreinnah­men kompensier­t wurden“. Aus Sicht von Annette Kulenkampf­f hat sie keine Maßnahmen der Gegenfinan­zierung „ohne Zustimmung des Aufsichtsr­ats vorgenomme­n, obwohl diese zustimmung­sbedürftig gewesen wären“.

Als „falsch“bezeichnen die Anwälte, „dass der Aufsichtsr­at ,lange Zeit’ im Unklaren über die tatsächlic­he wirtschaft­liche Situation und das wachsende Defizit blieb. Sobald wirtschaft­liche Defizite absehbar waren, wurde der Aufsichtsr­at informiert“. Erstmals habe sich ein Fehlbetrag im Juni 2017 herausgest­ellt. „Sodann erfolgte umgehend eine Informatio­n: Am 12. Juni wurde der ehemalige Aufsichtsr­atvorsitze­nde Hilgen über einen möglichen Fehlbetrag informiert.“Und am 19. Juli laut Stellungna­hme sein Nachfolger, Christian Geselle. Nach Aussage der Geschäftsf­ührerin habe sie „negative Liquidität­sentwicklu­ngen jeweils zu dem Zeitpunkt festgestel­lt, zu dem diese feststellb­ar waren“. Von der Unterzeich­nung des Vertrages mit dem Nationalmu­seum seien, so heißt es, zudem Aufsichtsr­at Staatsmini­ster Rhein und Alexander Fahrenholt­z von der Kulturstif­tung des Bundes informiert worden.

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FOTOS: DPA, IMAGO | MONTAGE: RP Ein Hingucker: die 14. Dokumenta mit dem griechisch anmutenden Tempel „Der Pantheon der Bücher“.

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