Rheinische Post

SEIN IST ALLES Die Angst vor dem Bären am Bus

Die Winterspie­le 1980 in Lake Placid waren auch sehr kalt. Unserem Autor drohte täglich ein Besuch aus der Wildnis. Dafür sah er aber auch das vielleicht beste Eishockeys­piel der Historie.

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Lake Placid (deutsch: stiller See) – da musst du erst einmal hinkommen. Der 3000-Seelen-Ort, an dem 1980 erneut, nach 1932, Winterspie­le stattfande­n, liegt ein paar Autostunde­n nördlich vom New Yorker Kennedy Airport in den Adirondack Mountains. Natur pur in einem entlegenen Zipfel der Welt.

Ich hatte mich mit zwei Kollegen aus München am Flughafen verabredet. Dort mieteten wir einen Leihwagen. Ging schon gut los. Als derjenige, der den Wagen fahren würde, seinen Führersche­in vorlegen sollte, sagte der erste Kollege: „Ich habe noch nie einen besessen.“Der zweite gab bekannt: „Sorry, ich hab zur Zeit keinen.“Damit war alles geklärt.

Mein Quartier – mit Familienan­schluss – war im Nachbarort Wilmington, etwa 30 Kilometer von Lake Placid entfernt, mitten in der Einsamkeit. Bei gelegentli­chen Kaminrunde­n erzählten die Vermieter ganz beiläufig, dass die Bären bei strenger Kälte schon mal aus dem Wald kämen. Und es war bitter kalt, bis zu minus 30 Grad. Bei der Damen-Abfahrt am Whiteface Mountain kamen die Läuferinne­n, die keinen Gesichtssc­hutz trugen, mit Erfrierung­en im Gesicht ins Ziel, unter ihnen auch die Siegerin Annemarie Moser-Pröll aus Österreich.

Der Gedanke an die Bären war fortan mein ständiger Begleiter – vor allem, wenn ich morgens auf den Shuttlebus wartete. Mein Kopf rotierte unablässig in alle Richtungen, einen Bären habe ich nie gesehen.

Das herausrage­nde Ereignis dieser Spiele war das Eishockey-Duell des US-Teams gegen den Klassenfei­nd UdSSR, der die vier vorangegan­genen olympische­n Turniere gewonnen hatte und als unbesiegba­r galt. Die Gastgeber traten mit einer zusammenge­würfelten CollegeMan­nschaft an, in deren Reihen kaum ein Spieler stand, dem eine Karriere in der NHL zugetraut wurde. Fallobst, konnte man sagen, zumal die Sowjets noch 13 Tage zuvor ein Vorbereitu­ngsspiel der beiden Teams mit 10:3 gewonnen hatten.

Aber Trainer Herb Brooks hatte seine Jungs mit einer denkwürdig­en Ansprache förmlich aufgeputsc­ht. Er schickte die Männer mit folgenden Worten aufs Eis: „Vergesst nicht, große Momente kommen bei großartige­n Gelegenhei­ten. Wenn wir zehnmal gegen sie antreten, können sie neunmal gewinnen – aber nicht dieses Spiel. Dies ist Eure Zeit, also geht raus und nutzt sie.“

Sie taten es, wild entschloss­en. Dreimal ging die Sbornaja in Führung, dreimal glichen die US-Boys aus. Als sie den Treffer zum 4:3-Sieg erzielten, verwandelt­e sich die Halle in ein Tollhaus. In der Reihe hinter mir saßen etwa 15 sowjetisch­e Funktionär­e und folgten dem Geschehen mit versteiner­ten Mienen.

Die Goldmedail­le sicherten sich die Amerikaner später mit einem 4:2-Sieg gegen Finnland. Aber die große Sause fand bereits nach diesem unverhofft­en Triumph in einem Blockhaus statt. Irgendwie schaffte ich es, dort Einlass zu erlangen. In der drängenden Enge hätte niemand umkippen können, die Holzbalken bogen sich nach außen.

An Sarajevo 1984 habe ich nur noch die traurige Erinnerung, dass ich Jahre später im Fernsehen den Wohnblock sah, in dem ich untergebra­cht war. Er lag nach dem Krieg auf dem Balkan in Trümmern.

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