Das Haus der 20.000 Bücher
Die Bomben fielen auf den Park Hampstead Heath, auf den Highgate Cemetery, das Whittington Hospital, auf mindestens eine Schule und auf zahlreiche Häuser und Geschäfte. Im East End, in der Nachbarschaft von Shapiro, Valentine & Co., musste fast jede Straße einen Bombeneinschlag hinnehmen; viele wurden mehrfach getroffen. Manche Straßen wurden völlig ausradiert, andere blieben unglaublicherweise unversehrt. Immer wieder drehte sich das Rouletterad, doch der kleine Buchladen wurde aus irgendeinem Grund verschont.
Die Zahl der Opfer war enorm. Zwischen September 1940 und Mai 1941 wurden weit über zwanzigtausend Londoner getötet, dreitausend allein am 10. Mai. Vier davon waren Mimis Verwandte. London glich einem Beinhaus. Chimen und Mimi schafften es irgendwie, einen Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten: Sie erledigte die Buchführung und kümmerte sich darum, dass der Laden geöffnet bleiben konnte; er war weiterhin auf der Suche nach wertvollen Büchern, selbst wenn die Feuer nach den Angriffen der vorherigen Nacht noch nicht erloschen waren. Eines Tages stürmte ein Käufer in den Laden, um Chimen mitzuteilen, dass das Beth Din – das Rabbinatsgericht der Vereinigten Synagoge, das immensen Einfluss auf das religiöse Leben orthodoxer Juden in Großbritannien ausübte und dem Yehezkel vorstand – von einer Bombe getroffen worden sei. In panischer Angst, dass sein Vater umgekommen sein könnte, verließ Chimen den Laden und rannte zum Beth Din. Er traf just in dem Moment ein, in dem Yehezkel in seinem staubverkrusteten Gabar- dinemantel aus den Trümmern hervortaumelte. Chimen wollte ihm entgegenlaufen, doch Yehezkel hastete in die Gegenrichtung davon, um Raizl wissen zu lassen, dass er den Angriff überlebt hatte.
Sechs Monate nach Beginn der Luftangriffe beschlossen meine Großeltern, London zu verlassen. Im Februar 1941 packten sie Chimens Bücher zusammen und brachen nach Bedford auf, etwa fünfzig Meilen nördlich von London, um der Raserei zu entgehen. Mimi wurde schwanger, und Jack (mein Vater) kam im Januar 1942 zur Welt. Sie wohnten in der Foster Hill Road 194 in einem großen Haus, das sie sich mit vierzehn Personen teilten, darunter mehrere von Mimis Verwandten. An sechs Tagen der Woche pendelte Chimen mit dem Zug zwischen Bedford und London, um den Laden in Gang zu halten. Und inmitten der Trümmer kaufte er weiterhin Bücher.
Einige dieser Neuzugänge jener Jahre signierte mein Großvater mit „Shimen“, andere mit „Shimon“, noch andere mit „S. Abramsky“oder „C. Abramsky“. Er schien immer noch mit der Schreibweise seines hebräischen Namens im Englischen zu experimentieren; in einem Brief aus dem Jahr 1967 an Isaiah Berlin, in dem er seinem Freund nach zehnjähriger Korrespondenz gestattete, ihn mit seinem Vornamen anzureden, erläuterte Chimen, die nicht phonetische Schreibweise seines Namens sei auf die eigenwillige Orthografie der sowjetischen Behörden zurückzuführen. Als er für die Kommunistische Partei zu arbeiten begann, brachte er auch noch Pseudonyme ins Spiel, und so kam „C. Allen“zustande. Vielleicht versuchte er, mit den vielen Varianten seines Namens (samt den ver- schiedenen Geburtsdaten, die er für sich beanspruchte: zwischen September 1916 und März 1917) immer noch herauszufinden, wer er war und sein wollte.
Als sich die Bombardements jedoch ausweiteten und Bedford keinen wirklichen Schutz mehr zu bieten schien, kehrten Chimen und Mimi nach London zurück. Obwohl V2-Raketen auf die Stadt niederprasselten, erwarben sie ihr Haus im Hillway. Vielleicht wollten sie auf diese Weise ein Anrecht auf die Zukunft anmelden. Wenn die Attacken zu heftig wurden, ging Mimi mit meinem damals zweijährigen verängstigten Vater in einen großen Bunker unter Hampstead Heath. Dort drängten sie sich mit anderen Schutzsuchenden aus der in Flammen stehenden Welt über ihren Köpfen zusammen, während ihr Schlupfwinkel unter den Explosionen erbebte. Die frühesten Erinnerungen meines Vaters sind mit jenem Unterschlupf verknüpft. Noch als Erwachsener sollten ihn Albträume plagen, in denen Bomben eine Rolle spielten.
In jenen finsteren Jahren setzte Chimen seine Arbeit bei Shapiro, Valentine & Co. fort und erweiterte seine Sammlung marxistischer Literatur. Abends, wenn die deutschen Bomber ihre tödliche Fracht über London abluden, machte er sich als Brandwächter für die Feuerwehr des Stadtviertels St. Pancras nützlich. Vom Dach eines Hauses aus hielt er Ausschau nach Flammen in der verdunkelten Stadt und gab telefonisch die Einsatzorte an die Löschzüge weiter. Am folgenden Morgen sah er dann das volle Ausmaß dessen, was die Brände angerichtet hatten. „Eines Tages“, schrieb er in den Notizen für seine nie vollendete Autobiografie, „er- eignete sich eine betäubende, gewaltige Explosion. Wir gingen hinaus, um zu sehen, was passiert war. London stand in Flammen und brannte an allen Ecken und Enden. Es war grauenvoll.“
Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn nach einem Bombenangriff aus dem U-Bahnhof Aldgate East hervorkommen und vorsichtig durch den Schutt staksen, vorbei an den schmalen alten HugenottenHäusern – einige stehen noch, andere sind zerstört –, um sich einen Weg von der Whitechapel High Street zur Commercial Street und dann an der Wentworth Street entlang zu seinem Buchladen zu bahnen. Vielleicht blieb er einen Augenblick lang in dem eigenartigen Geröll stehen, um sich zu orientieren; gut möglich, dass ihm der hoch aufragende Turm der Christ Church in Spitalfields, den der Architekt Nicholas Hawksmore im frühen 18. Jahrhundert entworfen hatte, dabei half, sich zurechtzufinden. An einem klaren Tag muss der ruhige blaue Himmel einen brutalen Kontrast zu den schwelenden Ruinen und dem Lärm der East-End-Bewohner gebildet haben, die sich bemühten, ihr – verglichen mit dem Schweigen der Toten – misstönendes Leben fortzusetzen. Die Ruinen dürften nach schmorenden Kabeln, verbranntem Gummi und all den anderen Überbleibseln zerstörter Gebäude gestunken haben.
Chimen muss zwischen den Ruinen hindurchgestapft sein, entsetzt über die Gräuel, die in seiner Wahlheimat entfesselt worden waren, doch zugleich dachte er wahrscheinlich darüber nach, wie die Stadt nach Ende des Krieges aussehen und verwaltet werden würde.
(Fortsetzung folgt)