Rheinische Post

Im Einsatz für zierliche Kämpfer

Martin Berghäuser ist neuer Chefarzt der Kinderklin­ik des Florence-Nightingal­e-Krankenhau­ses und für die Frühgebore­nen zuständig.

- VON BENJAMIN SCHRUFF

Das Mädchen liegt auf einem Kissen, das mit bunten Herzen gemustert ist. Es bewegt sich recht viel, vor allem die Arme und Beine, aber auch den Kopf. Dabei verrutscht immer wieder die Atemmaske, die Maschine meldet ein Leck und ein kurzes Alarmsigna­l ertönt. Martin Berghäuser beachtet es kaum: „Die Signale klingen alle unterschie­dlich und das ist keins, bei dem man rennen muss.“

Berghäuser ist seit 1. Januar Chefarzt der Kinderklin­ik am FlorenceNi­ghtingale-Krankenhau­s und Spezialist für Neonatolog­ie, also Frühund Neugeboren­enmedizin. Er selbst vermeidet Begriffe wie Frühgebore­ne oder Frühgeburt, weil er sie zu „unscharf“findet: „Ein Kind, das nach der 22. vollendete­n Woche geboren wird, ist ein Hochrisiko­patient. Ein Kind, das nach der 36. Woche geboren wird, bekommt wahrschein­lich keine Probleme. Aber beide gelten als Frühgebore­ne.“Berghäuser unterschei­det diese Patienten daher nach der Zeit, die rechnerisc­h zwischen Empfängnis und Geburt vergangen ist. Anders als etwa Frauenärzt­e zählt er dabei nicht nur die Wochen: „Wir zählen jeden Tag, weil jeder Tag zählt.“

Als Grenze des medizinisc­h Machbaren gelten derzeit 22 Wochen und null Tage. Kinder, die noch früher geboren wurden und dennoch überlebt haben, würden in der Fachlitera­tur nur als Einzelfäll­e auftauchen, sagt Berghäuser. „Natürlich lässt man auch diese Kinder nicht allein. Aber sie werden vor allem palliativ begleitet – keine Schmerzen, keine Angst.“Bei Kindern, die später geboren werden, steigen die Überlebens­chancen dann stetig an. „Nach 22 Wochen und null Tagen, überleben zwischen drei und fünf Prozent gesund, nach 24 Wochen sind es schon zwischen 40 und 45 Prozent und nach 28 Wochen 85 Prozent.“

Das Mädchen mit der Atemmaske, die ständig Alarm auslöst, wurde Mitte November nach 23 Wochen und drei Tagen geboren. Damals wog sie 640 Gramm, mittlerwei­le wiegt sie mehr als das Doppelte und Berghäuser gibt ihr eine gute Prognose: „Die hat sich den Weg freigekämp­ft.“

Seit ihrer Geburt lebt sie in einem Inkubator. Dessen Temperatur ist auf 31 Grad eingestell­t, die Luftfeucht­igkeit auf 58 Prozent. Eine Atemhilfe unterstütz­t ihre Lunge. Sie wird über eine Magensonde mit Muttermilc­h versorgt und über einen intravenös­en Zugang mit weiteren Nährstoffe­n, vor allem Fetten. Außerdem wird ihr Herzschlag und der Sauerstoff­gehalt ihres Blutes überwacht. Auf der mehrwandig­en Plexiglash­aube des Inkubators liegt eine Decke zur Verdunkelu­ng. Die Lautstärke im Raum wird automatisc­h kontrollie­rt. Ist sie angemessen, leuchtet ein grünes Licht, spricht jemand zu laut oder ertönt ein Alarmsigna­l, leuchten erst ein gelbes und dann ein rotes Licht als Warnung auf. Berghäuser: „Die Geräuschre­duktion, die Dunkelheit und die Wärme, damit versuchen wir, den Mutterleib zu simulieren.“

Die Plexiglash­aube des Inkubators hat Handöffnun­gen, durch die das Frühgebore­ne von Ärzten und Krankensch­western medizinisc­h versorgt werden kann. Sie können auch von den Eltern genutzt werden, um ihr Kind zu liebkosen. Vorher hätten sie natürlich eine Einweisung erhalten, etwa zur Handhygien­e, sagt Berghäuser: „Außerdem rate ich von Streichelb­ewegungen ab, zu denen viele Menschen instinktiv neigen. Davon werden die Kinder oft unruhig, ich empfehle stattdesse­n Handaufleg­en.“

Wie lange Frühgebore­ne im Inkubator beziehungs­weise auf der Intensivst­ation bleiben müssen, ist unterschie­dlich – die Spanne reicht von wenigen Tagen bis zu mehreren Monaten. Im Wesentlich­en gibt es vier Voraussetz­ungen für eine Entlassung: Das Herz und die Lunge funktionie­ren, die Körpertemp­eratur kann gehalten werden und Nahrung wird aufgenomme­n.

Die frühe Geburt könne ihr späteres Leben prägen, müsse es aber nicht, erklärt Berghäuser: „Manche bleiben klein und zierlich, sind anfällig für Infektione­n. Bei anderen wächst sich das komplett raus und wird zu einer Geschichte am Anfang ihres Lebens.“Charakterl­ich gebe es schon eher Gemeinsamk­eiten: „Der Wille hat sie am Leben gehalten – das sind alles Kämpfer.“

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Martin Berghäuser ist Spezialist für Neonatolog­ie, also Früh- und Neugeboren­enmedizin.
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