Rheinische Post

„Eltern, die ihr Kind lieben, nehmen Hilfsangeb­ote an“

Der Vorstandsv­orsitzende der Stiftung Deutsches Forum Kinderzuku­nft spricht über Möglichkei­ten, Kinder besser zu schützen. Der frühere Oberarzt setzt darauf, Vertrauen zu Familien aufzubauen.

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Herr Kratzsch, im November hat in Wersten ein Vater seinen acht Monate alten Sohn totgeschüt­telt. Und in Mönchengla­dbach hat kürzlich ein Vater sein sechs Wochen altes Baby erstickt. Was denken Sie, wenn Sie von solchen Fällen hören? KRATZSCH Ich kenne Details dieser Fälle nicht. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass das Schütteln, wenn Säuglinge ausdauernd schreien, leider vorkommt, ja auch in allen Familien passieren kann, obwohl es lebensgefä­hrlich und verboten ist. Meine Frage wäre, ob es schon in der Geburtskli­nik eine Möglichkei­t gegeben hätte, einen Kontakt zu den jeweiligen Eltern herzustell­en. Fast alle Frauen kommen zur Entbindung in eine Klinik und wünschen sich ein gesundes Kind. Es ist möglich, in der Klinik erste Auffälligk­eiten zu erkennen. Welche Anzeichen gibt es? KRATZSCH Wir wissen von einer Häufung von Risikofakt­oren, die die Wahrschein­lichkeit erhöht, dass Kinder vernachläs­sigt oder misshandel­t werden. Dazu zählt zum Beispiel, wenn Mütter sehr jung und alleinerzi­ehend sind, überforder­t wirken, Konflikte mit den Partnern bestehen. Schwierig kann auch sein, wenn eine familiäre Unterstütz­ung fehlt, zum Beispiel durch Großeltern. Risiken bestehen auch, wenn Eltern psychisch krank sind oder Alkoholpro­bleme haben. Häufiger beobachtet man bereits in der Klinik eine auffällige Interaktio­n zwischen Mutter, Vater und Kind. Die Frauen bleiben heute kürzer nach der Entbindung im Krankenhau­s als früher. Ist das ein Problem? KRATZSCH Nein. Ein oder zwei Tage reichen, um gefährdete Kinder zu erkennen, manchmal sogar eine ambulante Entbindung. Schon bei der Aufnahme der Mutter erfährt man vieles. Die Hebamme, die dann im Kreißsaal ist, erfährt Dinge, die man normalerwe­ise zu keiner anderen Zeit hört. Das können Hinweise dafür sein, dass Mütter eine besondere Unterstütz­ung brauchen. Sie haben 1987 als Oberarzt der Kinderneur­ologie im Gerresheim­er Klinikum angefangen, sich für bessere Abläufe in Kliniken einzusetze­n. Die Stadt Düsseldorf hat 2004 gemeinsam mit dem Jugendamt, dem Gesundheit­samt und den Geburtskli­niken ein Modell zur Vorbeugung von Kindesmiss­handlungen angestoßen. Hat sich seitdem was getan? KRATZSCH Ja, sehr viel. Das Modell ist etabliert. Ich bin froh, dass die Stadt es zum Beispiel geschafft hat, dass im Gesundheit­samt inzwischen Familienki­nderkranke­nschwester­n arbeiten, die nach Hause kommen. Ich glaube aber, dass wir noch mehr tun können. Seit Ihrer Pensionier­ung vor zehn Jahren engagieren Sie sich mit Ihrer Stiftung Deutsches Forum Kinderzuku­nft für mehr Engagement in der Vorbeugung. KRATZSCH Ja. Einem Drittel der Fälle können wir vorbeugen, wenn wir den frühen Zugang zu den Müttern haben. Diesen Zugang haben wir Ärzte, Kinderkran­kenschwest­ern und Hebammen. Und zwar stärker als das Jugendamt, gegen das viele Menschen immer noch starke Vorbehalte haben. Wichtig ist es dabei, Mitarbeite­r in Kliniken zu schulen und zu vernetzen. Und wir müssen zu einem Modell kommen, das im Kern in allen Kliniken praktizier­t wird. Eigentlich denkt man doch, dass jede Geburtskli­nik auf solche Anzeichen achtet. KRATZSCH So einfach ist es eben nicht. Ein großes Problem kann der Schichtdie­nst sein. Eine Krankensch­wester erfährt etwas, gibt es zum Beispiel nicht an die nächste Schicht weiter. So gehen Informatio­nen verloren. Es ist wichtig, ein standardis­iertes Verfahren zu entwickeln. Ich habe gemerkt, dass das Netzwerken wichtig ist. Was meinen Sie? KRATZSCH Ärzte müssen zum Beispiel verbindlic­he Ansprechpa­rtner im Jugendamt und bei den Wohl- fahrtsverb­änden haben. Wenn man sich persönlich kennt, fällt die Zusammenar­beit viel leichter. Wie viele Kinder sind in Gefahr, vernachläs­sigt oder misshandel­t zu werden? KRATZSCH Wir wissen aus langer Beobachtun­g, dass fünf Prozent der Kinder als gefährdet gelten. Wenn es also in diesem Jahr erstmals 9000 Geburten in Düsseldorf gibt, sprechen wir von über 450 Kindern. Langzeitst­udien zeigen, wie sehr vernachläs­sigte Kinder leiden können. Sie haben in ihrer Kindheit keine liebevolle Betreuung erfahren. Wir wissen, dass sie häufiger bereits im Kindergart­en und in der Schule auffallen, ausgegrenz­t, später häufiger aggressiv oder kriminell werden. Und das ganze System wiederholt sich in der nächste Generation. Lässt sich das Muster durchbrech­en? KRATZSCH Oft schon. Und zwar dann, wenn es gelingt, ein Vertrauen zu den Familien aufzubauen. Müssen sich Eltern helfen lassen wollen? KRATZSCH Ja. Wofür ich eintrete, ist keine Pflicht, sondern ein freiwilli- Wenn die Kinder nach der Entbindung zu Hause sind, ist der Kinderarzt ein wichtiger Ansprechpa­rtner. KRATZSCH Ja. Wir bilden deshalb inzwischen Arzthelfer­innen in Kinderarzt­praxen fort, damit sie ihren Ärzten bei der Beurteilun­g unterstütz­en. Denn sie sehen während der Sprechstun­de viel: Sieht ein Kind ungepflegt aus? Wie ist die Interaktio­n mit der Mutter? Die U-Untersuchu­ngen werden von fast allen Eltern eingehalte­n. Das sind alleine sieben Termine in den ersten beiden Lebensjahr­en. Sie geben wichtige Anhaltspun­kte. Wir würden auch diesen Ansatz gern weiterentw­ickeln. In welche Richtung? KRATZSCH Die Vernetzung von Kinderärzt­en und Jugendamt wäre wichtig. Es gibt in Düsseldorf ein neues Projekt in vier Stadtbezir­ken, in dem vier Praxen mit den Bezirkssoz­ialämtern zusammenar­beiten. Bei Kindeswohl­gefährdung erhalten die Ärzte eine Beratung, und mit Einverstän­dnis der Eltern stellen sie Kontakt zum Jugendamt für Unterstütz­ungsangebo­te her. Sie wollen auch, dass Eltern schneller die Ansprechpa­rtner finden. KRATZSCH Ja. Wir glauben, dass das U-Heft, in dem die U-Untersuchu­ngen dokumentie­rt werden, dabei helfen kann. Wir planen, dass in alle U-Hefte in Düsseldorf ein Sticker geklebt wird, auf dem die Eltern erfahren, an welche Beratungss­tellen sie sich bei Problemen wenden können. Das geht maßgeblich von Hermann Josef Kahl aus, dem Bundesspre­cher des Berufsverb­andes der Kinder- und Jugendärzt­e.

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Wilfried Kratzsch hält es für wichtig, dass Mitarbeite­r in Kliniken geschult und vernetzt werden, damit kritische Fälle schneller erkannt werden.

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