„Theater braucht unbequeme Menschen“
Als Reaktion auf die Me-Too-Debatte will das Schauspielhaus eine Vertrauensperson von außen benennen – auch um Grenzen zu definieren.
DÜSSELDORF Die Debatte über Machtmissbrauch, Geschlechtergerechtigkeit und falsche Strukturen hat nach der Filmbranche auch die Theater erreicht. Aber wie funktioniert ein großer Stadttheaterbetrieb eigentlich? Wir haben mit dem Intendanten des Düsseldorfer Schauspielhauses, Wilfried Schulz, und dem Chefdramaturgen Robert Koall über Themen wie Besetzungsstrategien und Gehaltsunterschiede gesprochen. Wie formt man ein Ensemble? SCHULZ Man lädt Schauspieler ein, denen man ein kreatives, innovatives Potenzial zutraut. Wir achten darauf, möglichst unterschiedliche Menschen zusammenzuholen, denn über allem steht für uns die Idee, dass ein Ensemble Spiegel der Gesellschaft sein soll. Und wenn es an die Rollen geht? Wie entscheiden Sie über Besetzungen? KOALL Es gibt den Spielplan mit um die 20 Inszenierungen und das Ensemble mit um die 35 Darstellern. Daraus ergeben sich praktische Anforderungen: ein Schauspieler kann etwa nicht zwei Rollen gleichzeitig proben. Dann gibt es noch die künstlerischen Wünsche des Regisseurs, den Ehrgeiz der Schauspieler und unsere Verantwortung, jedem Ensemblemitglied Chancen zur Entfaltung zu bieten. All das besprechen wir in vielen Sitzungen. So ergibt sich Schritt für Schritt aus dem künstlerisch und sozial Gebotenen die Rollenverteilung. SCHULZ Die Besetzung ist also keine einsame Entscheidung des Intendanten, sondern eine Ensembleleistung. Ich entscheide zwar am Schluss, aber nicht alleine. Was machen Sie, wenn im Probenprozess Schwierigkeiten zwischen Darstellern und Regisseur auftreten? SCHULZ Das kommt vor. Aber die Disziplin und die Selbstdisziplin auf allen Seiten ist extrem gestiegen. In den 80er und 90er Jahre gab es noch viele eruptive Situationen bei Proben, da saß dann manchmal das ganze Ensemble beim Intendanten und hat protestiert. Das ist in den vergangenen 20 Jahren fast verschwunden. Warum verdienen Frauen am Theater weniger als Männer? SCHULZ Berufsanfänger bekommen bei uns alle den gleichen Vertrag. Natürlich ist das manchmal anstrengend, wenn man auf ganz andere Denkweisen und Lebenshaltungen stößt, aber genau das ist produktiv. Ich möchte ein vielfältiges Ensemble haben, Inszenierungen mit größtmöglicher innerer Radikalität, Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner sollten spannende, fordernde Künstler sein. Dadurch kommen natürlich manchmal auch Leute ans Theater, die ein schwieriges, von der Alltagsnorm abweichendes Verhalten haben. Das ist wertvoll. Es ist Aufgabe eines Intendanten, im großen Apparat eines Stadttheaters Freiräume zu schaffen, gleichzeitig aber ein Betriebsklima zu schaffen, das jedem seine Würde lässt und dafür sorgt, dass die Mitarbeiter einander auf Augenhöhe begegnen können. Manchmal ist das die Quadratur des Kreises. Ich habe schon mit vielen sehr berühmten Regisseuren und Schauspielern gearbeitet – nicht mit allen wäre ich gern in Urlaub gefahren. Hat die MeToo-Debatte etwas verändert? SCHULZ Ja, sie sensibilisiert und ermutigt viele, sich zu äußern. Das ist wichtig. Aber ich sehe die Me-TooDebatte im Zusammenhang mit anderen Veränderungen. Hierarchien und Transparenz werden diskutiert. Und Künstler haben heute ganz andere Ansprüche an eine Work-LifeBalance. Zu Recht! Früher hatte kaum ein Mensch am Theater Familie, das erschien unvereinbar. Die Frage bleibt, wie man Räume öffnet, um Kunst zu produzieren. KOALL Den Selbstverbrennungsprozess zu ermöglichen, den es braucht. SCHULZ Wir haben im Gespräch zwischen Ensemble und Leitung aufgrund von Me-Too entschieden, eine Vertrauensperson von außen zu benennen, für den Fall, dass mal alle selbstregulierenden Mechanismen innerhalb der Produktion versagen. Wir halten es für angebracht, einen Notfallknopf einzurichten. Wir wollen dadurch einen angstfreien, professionellen Raum schaffen, in dem man darüber sprechen kann, was schlechtes Benehmen ist, was inakzeptabler Übergriff – überhaupt, wo Grenzen verlaufen.