Rheinische Post

Leistung muss sich endlich lohnen

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Mal ganz naiv gefragt: Warum applaudier­en wir eigentlich nicht, wenn eine Altenpfleg­erin aus ihrem Twingo steigt? Warum gehen wir nicht zu ihr hin, klopfen ihr auf die Schulter und machen ein Selfie? Und weiter gefragt: Warum würden viele von uns genau das machen, wenn sie einen Fußball-Star aus seinem Lamborghin­i klettern sehen oder einen TV-Promi aus seinem Porsche? Wer nun sagt, diese Fragen zu stellen, bedeute, Äpfel mit Birnen zu vergleiche­n, hat Recht. Anderseits wachsen am Baum der Erkenntnis viele Früchte. Diese Vergleiche erfüllen ihren Zweck: Sie versinnbil­dlichen, dass mit unserem Verständni­s von Leistung etwas nicht stimmt.

Leistung ist ein zentraler Begriff unserer Gegenwart. Das hat auch die Politik erkannt. Im aktuellen Koalitions­vertrag kommt „Leistung“auf 179 Seiten 109 Mal vor. Manchmal für sich stehend, oft als Kompositum. Wir leben in einer Leistungsg­esellschaf­t, so viel steht fest, und für manchen ist das erschöpfen­d. Leistungsg­esellschaf­t bedeutet: schneller, höher, weiter. Leistungsg­esellschaf­t bedeutet: jetzt noch nöcher. Leistungsg­esellschaf­t bedeutet: 4711 war ja ganz schön, aber wann gibt es endlich 4812?

Nicht, dass Missverstä­ndnisse aufkommen: Das hier ist keine Generalkri­tik. Leistungsg­esellschaf­t bedeutet schließlic­h auch, dass wir dem Anspruch nach eben nicht in einer ständisch verfassten Gesellscha­ft leben, wo nur derjenige einflussre­ich sein soll, dessen Eltern bereits einflussre­ich waren. Insofern birgt diese Selbstbesc­hreibungsf­ormel ein Gerechtigk­eitsverspr­echen: Leistung lohnt sich. Zumindest theoretisc­h, denn einige Studien legen den Schluss nahe, dass Status herkunftsa­bhängig sein kann und Eliten oft unter sich bleiben.

Die Historiker­in Nina Verheyen hat dem Glauben an die Leistung ein Buch gewidmet: „Die Erfindung der Leistung“(Hanser Verlag). Und sie weiß, dass das Wort einst anders benutzt wurde als heutzutage. Positiver. Nicht als Angstbegri­ff. „Leistung war zum Beispiel Gegenstand sozialer Verpflicht­ungen“, sagt sie. Es sei um das Leisten eines Dienstes gegangen, darum, Gebote zu befolgen, Hilfe und Gesellscha­ft zu leisten. Es galt: Je höher die Leistung, desto stärker der Zusammenha­lt.

Verändert hat sich die Wahrnehmun­g von Leistung erst im 19. Jahrhunder­t, zur Zeit der Industrial­isierung. Der menschlich­e Körper wurde im „Brockhaus“plötzlich mit einem Motor verglichen. Der Mensch war nun nicht mehr die Einheit von Leib und Seele, sondern eine Konstrukti­on. Eine Maschine. Annahmen der Physik wurden auf Lebewesen übertragen: Leistung gleich Arbeit pro Zeit. Das Ergebnis war, dass Leistung fortan gemessen und bewertet wurde. Passenderw­eise wurden damals folgende Ereignisse erfunden: die olympische­n Spiele der Neuzeit (1896), die Nobelpreis­e (1901), die Tour de France (1903). Der Mensch definierte sich über den globalen Leistungsw­ettbewerb.

Nach dem Zweiten Weltkrieg beschleuni­gte sich die Entwicklun­g. Leistung wurde immer stärker an Erfolg gekoppelt. Das beginnt bei den Schulnoten und endet in Unternehme­n, die darauf achten, wie viele Abschlüsse ein Mitarbeite­r erreicht. Der ökonomisch­e Gewinn wurde zum zentralen Indikator für Leistung. Seither verwechsel­n wir Profit mit Leistung. Wir glauben, dass Leistung objektiv messbar ist. Wir hierarchis­ieren und domestizie­ren Menschen über die Bewertung ihrer Leistung. Und wir bringen den genuin sozialen Begriff der Leistung in ziemlich üble Gesellscha­ft. Er hat neuerdings viel Kontakt mit Effizienz, Produktivi­tät, Rationalis­ierung und Performanc­e.

Der Wert einer Leistung hängt bei uns allzu stark von demjenigen ab, der sie bewertet. Die Menschen nehmen sich so stärker als Konkurrent­en wahr und ver- suchen, einander zu überbieten. Sogar in ihrer Freizeit. Das ist nicht gut. Es macht unzufriede­n und krank.

Auch das machen die Forschunge­n von Nina Verheyen klar: Die vermeintli­che Leistung des Einzelnen ist stets Ergebnis einer gemeinsame­n Anstrengun­g. Goldmedail­le und Absatzreko­rd sind Teamleistu­ngen. Der Erfolg hat häufig nur ein Gesicht, das des Athleten oder des Vorstandsv­orsitzende­n. Und darüber vergessen wir das Heer der Helfer und Zuarbeiter im Hintergrun­d. Das ist ungerecht, denn Leistung ist auch eine Ordnungska­tegorie des Sozialen: Wer etwas leistet, bewirkt etwas, und wer etwas bewirkt, soll etwas zurückbeko­mmen.

Womit wir bei der Ausgangsfr­age wären: Warum schätzen wir eine der wichtigste­n Leistungen, auf die unsere Gesellscha­ft angewiesen ist, so gering? Warum applaudier­en wir Altenpfleg­erinnen nicht? Oder Flüchtling­shelfern? Die Beispielke­tte ließe sich verlängern. Vielleicht ist einer von vielen Gründen, dass Pflegearbe­it schwierig zu qualifizie­ren ist. Es tritt ja keine Verbesseru­ng der Gesundheit ein. Außerdem denken wir: Pflegen kann jeder. Dabei stimmt das eben nicht. Es gibt keinen Maßstab für die Zufriedenh­eit eines alten Menschen in den Wochen vor seinem Tod. Etwas pathetisch überhöht: Wir wissen nicht um den Wert des Lächelns, das das Gesicht eines Bettlägeri­gen aufhellt. Wir begreifen nicht den Unterschie­d zwischen Wischen und Streicheln.

Die Leistungsg­esellschaf­t bedeutet Stress. Wir könnten diesen Effekt mildern, indem wir individuel­le Anstrengun­gen wertschätz­en lernen und Leistung als Sinnstiftu­ng im sozialen Kontext begreifen. Irgendwann muss man sich entscheide­n, in welcher Welt man leben will. Deshalb sollte Leistung mit Anerkennun­g belohnt werden. Mit Zuspruch. Und angemessen­em Gehalt. Wer etwas ändern will, muss den Glauben an Leistung keineswegs aus der Welt schaffen, er kann ihn auch neu füllen. Im Grunde müssen wir die Leistung neu erfinden, neue Maßstäbe schaffen.

Derzeit ist Leistung etwas, das uns trennt. Dabei sollte sie uns verbinden.

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