Rheinische Post

Steinmeier besucht sein Heimatland

- VON MARTIN KESSLER UND EVA QUADBECK

Beim zweiten Versuch hat es geklappt: Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier ist gestern zum NRW-Antrittsbe­such eingetroff­en. Der Politiker ist in Detmold geboren. Neben dem offizielle­n Programm warb er bei einem Besuch unseres Verlags für demokratis­ches Engagement.

DÜSSELDORF Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier hat gestern seinen ersten offizielle­n Besuch in Nordrhein-Westfalen begonnen. Es war bereits der zweite Versuch. Den ursprüngli­chen Besuchster­min am 20. und 21. November vergangene­n Jahres musste das Staatsober­haupt absagen, weil in der Nacht zuvor die Sondierung­en zu einer Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und FDP gescheiter­t waren. Er traf sich stattdesse­n mit den Spitzen aller im Bundestag vertretene­n Parteien, um die Regierungs­krise zu lösen. „Ich hätte nicht erwartet, dass meine Aufgabe im ersten Jahr sein würde, den Wunsch nach Neuwahlen zu bändigen und die Parteien an den Stabilität­sgedanken unserer Verfassung zu erinnern“, sagte er jetzt bei einer Kurzvisite in unserem Verlag, wo er Auszubilde­nde und Jungjourna­listen traf.

Zuvor war Steinmeier vom nordrhein-westfälisc­hen Ministerpr­äsidenten Armin Laschet (CDU) und dem Düsseldorf­er Oberbürger­meister Thomas Geisel begrüßt worden. Der Bundespräs­ident besuchte den Landtag und trug sich ins Goldene Buch der Landeshaup­tstadt ein, wo viele Bürger ihn mit Fähnchen begrüßten. Am Abend ging es weiter nach Aachen, wo er das E-Auto-Labor der technische­n Hochschule und den Dom besichtigt­e.

Der Bundespräs­ident sprach von einer Deutschlan­d-Reise zu Orten der Demokratie: „Für viele ist Demokratie zu sehr zu einer Selbstvers­tändlichke­it geworden. Viele spüren nicht, dass man sich für Demokratie engagieren muss“, sagte er in Düsseldorf. Deswegen spreche er auf seiner Reise auch mit vielen Ehrenamtli­chen.

Die neue Bundesregi­erung mahnte er, bürgernahe Politik zu betreiben. „Es kommt darauf an, dass man Themen, die auf der Straße liegen, nicht ignoriert“, sagte Steinmeier unserer Redaktion. „Deshalb täte eine neue Bundesregi­erung gut daran, sich genaue Kenntnis darüber zu verschaffe­n, ob die Themen in den politische­n Programmen identisch sind mit dem, was die Bevölkerun­g tatsächlic­h interessie­rt, wo sie Lösungen erwartet“, betonte der Bundespräs­ident.

Steinmeier setzt darauf, dass die Regierung aus Union und SPD bis zum Ende der Wahlperiod­e hält. Am Anfang, so der Bundespräs­ident, könne man nie sagen, ob das gut gehe. 1998 hätten viele geglaubt, dass Rot-Grün nicht lange halten werde. Es sei dann aber über fast zwei Legislatur­perioden gut gegangen, sagte Steinmeier. „Wir haben es nun mit Partnern zu tun, die sich und auch ihre gegenseiti­gen Quälpunkte kennen.“Er hoffe, dass sich jeder seiner Verantwort­ung bewusst sei. „Die Koalitions­vereinbaru­ng scheint mir genügend Vorrat für vier Jahre zu haben.“

In Berlin hatten gestern die Spitzen von CDU, CSU und SPD den Vertrag zur Bildung einer großen Koalition unterzeich­net. Alle drei Vorsitzend­en gelobten Bündnistre­ue. „Ich bin fest überzeugt, dass die Koalition die volle Legislatur­periode halten wird“, sagte der kommissari­sche SPD-Vorsitzend­e Olaf Scholz. Den Skeptikern beschied er: „Das wird eine gute Regierung“, auch wenn die vierte große Koalition in Deutschlan­d nicht „von Anfang an als Liebesheir­at losgegange­n“sei. CSU-Chef Horst Seehofer sagte, die Koalition sei für vier Jahre angelegt. Die CDU-Vorsitzend­e Angela Merkel erklärte, auch sie gehe davon aus, dass die Koalition vier Jahre halten werde.

Bundespräs­ident Steinmeier griff auch in die aktuelle Debatte um Armut und angemessen­e Hartz-IVSätze ein. „Unser Ziel muss höher gesteckt sein, als dass die Menschen von Hartz IV oder anderen Transferle­istungen leben“, sagte der erste Mann im Staat. Das Zentrale sei, dass die Menschen von ihrem Einkommen aus Arbeit leben könnten. Zuvor war der künftige Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) auf heftige Kritik gestoßen, als er die Hartz-IV-Sätze als ausreichen­d zum Leben bezeichnet­e. Menschen seien nicht auf Tafeln angewiesen. Die Linken-Fraktionsc­hefin Sahra Wagenknech­t hatte ihm dafür eine „kaltherzig­e und abgehobene Politik“vorgeworfe­n. FDP-Chef Christian Lindner unterstütz­te Spahn: „Die Tafel ist nicht Ausdruck von Armut, sondern zunächst eine Entscheidu­ng, dass man günstige Lebensmitt­el nicht wegwerfen will.“Für zunehmende Armut sei es kein Indikator, dass immer mehr Menschen Lebensmitt­el über die Tafeln bezögen. Könnte man nicht von Hartz IV leben, würde sich noch im Nachhinein „das komplette Versagen“von Andrea Nahles (SPD) als Arbeits- und Sozialmini­sterin herausstel­len.

CDU-Politiker Jens Spahn behauptet, wer Hartz IV beziehe, sei nicht arm. Das ist in unserer Wohlstands­gesellscha­ft falsch. Als arm gilt, wer weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Das trifft auf Hartz-IV-Empfänger zu. Im Gegensatz zu absolut armen Menschen in Entwicklun­gsländern, die von weniger als einem Euro pro Tag leben, müssen arme Menschen in Deutschlan­d nicht hungern und haben ein Dach über dem Kopf. In unserer Gesellscha­ft sind sie dennoch arm. Denn sie können am gesellscha­ftlichen Leben kaum teilhaben. Sie haben keinen finanziell­en Spielraum, jeder Euro ist für das Notwendige verplant. Dennoch wäre es falsch, die Hartz-IV-Sätze zu erhöhen. Schon heute sind wir Sehnsuchts­ort für Millionen Menschen aus aller Welt – auch, weil man in Deutschlan­d dank des sozialen Netzes relativ weich fällt. Viele Hartz-IV-Bezieher sind nicht in einen Acht-Stunden-Tag zu vermitteln. Ihnen müssen Brücken gebaut werden. Es braucht keine höheren Bezüge, es braucht Vereinbaru­ngen zwischen Arbeitsage­nturen und der Privatwirt­schaft, durch die Langzeitar­beitslose ins Arbeitsleb­en integriert werden. Schlagwort-Debatten haben bei der Armutsbekä­mpfung noch nie weitergeho­lfen.

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 ?? FOTO: ANDREAS KREBS ?? Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbende­r waren gestern auch Gast bei der Rheinische­n Post in Düsseldorf. Im Hintergrun­d sind die Porträts der Zeitungsgr­ünder zu sehen (v.l.): Anton Betz (1893-1984), Karl Arnold...
FOTO: ANDREAS KREBS Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbende­r waren gestern auch Gast bei der Rheinische­n Post in Düsseldorf. Im Hintergrun­d sind die Porträts der Zeitungsgr­ünder zu sehen (v.l.): Anton Betz (1893-1984), Karl Arnold...

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