Rheinische Post

Neuanfang mit Dämpfer für Merkel

Bei ihrer vierten Wahl zur Kanzlerin bekommt die 63-Jährige zu spüren, wie groß der Unmut in der neuen großen Koalition ist. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier spricht von „Bewährungs­jahren für die Demokratie“.

- VON KRISTINA DUNZ, GREGOR MAYNTZ UND EVA QUADBECK

BERLIN Nach der längsten Regierungs­bildung in der Geschichte der Bundesrepu­blik startet die neue große Koalition mit einem Dämpfer für Kanzlerin Angela Merkel in eine schwierige Amtszeit. Die 63-Jährige bekam bei ihrer vierten Wahl zur Bundeskanz­lerin gestern 364 Stimmen und damit nur neun mehr als für die im ersten Wahlgang erforderli­che absolute Mehrheit. CDU, CSU und SPD verfügen zusammen über 399 Sitze. Abgeordnet­e von Union und SPD verdächtig­ten sich anschließe­nd gegenseiti­g, Merkel in der geheimen Wahl die Unterstütz­ung verweigert zu haben.

Vorausgega­ngen waren fast sechs turbulente Monate seit der Bundestags­wahl, bei der alle drei Koalitions­partner schlechte Ergebnisse erzielt hatten. Zerwürfnis­se, Richtungss­treits und personelle Konsequenz­en prägten die Versuche einer Regierungs­bildung. Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble wünschte Merkel nach ihrer Vereidigun­g – ungewohnt für einen solchen Anlass – alles Gute auf ihrem „schweren Weg“. Ungewöhnli­ch war auch die Rede von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier zur Ernennung der 15 Bundesmini­ster in Schloss Bellevue. Mit Blick auf die teils aufgeheizt­e Stimmung gegenüber westlichen Demokratie­n sprach der Bundespräs­ident von „Bewährungs­jahren für die Demokratie“. Er warb dafür, der großen Koalition einen Vertrauens­vorschuss zu geben, wenn auch mit defensiver Wortwahl: „Eine erneute Verständig­ung auf diese Konstellat­ion verwirkt nicht den Anspruch, zunächst einmal ernst genommen zu werden – mit dem Ziel, Gutes für das Land zu bewirken.“

Steinmeier mahnte zugleich, diese Regierung müsse sich neu und anders bewähren. Er forderte die Minister auf, „genau hinzuhören und hinzuschau­en, auch auf die alltäglich­en Konflikte im Land – fern der Weltpoliti­k“. Er lobte als ein „gutes Signal“, dass sich die Kanzlerin künftig dreimal im Jahr Debatten im Parlament stellen will. Indirekt nahm er noch einmal Bezug auf die aufgeheizt­e Debatte um Armut in Deutschlan­d. Es müsse bewahrt werden, was das Land stark ge- macht habe: „die Balance von sozialer Gerechtigk­eit und wirtschaft­licher Vernunft“.

Im Anschluss erhielten die 15 Bundesmini­ster ihre Ernennungs­urkunden vom Staatsober­haupt und leisteten ihren Eid vor dem Bundestag. Dabei verzichtet­en Vizekanzle­r und Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD), Justizmini­sterin Katarina Barley (SPD) und Umwelt- ministerin Svenja Schulze (SPD) auf die von allen anderen verwendete religiöse Bekräftigu­ng „So wahr mir Gott helfe“. Als Merkel das Reichstags­gebäude verließ, rissen Sicherheit­skräfte einen Mann zu Boden, der sich ihr mit einem schwer verständli­chen Ruf (möglicherw­eise „Allahu akbar“– „Gott ist groß“) genähert hatte.

Die AfD-Fraktionsv­orsitzende Alice Weidel sagte: „Man kann davon ausgehen, dass die Koalition noch vor dem Ablauf der Legislatur­periode das Zeitliche segnen wird.“Die AfD ist nun die größte Opposition­spartei im Bundestag. FDP-Chef Christian Lindner, der im November die Jamaika-Sondierung­en hatte platzen lassen, sprach angesichts des Ergebnisse­s von Merkel von „Autoritäts­verlust“. Die Unzufriede­nheit in der großen Koalition sei offensicht­lich groß.

Die Parteivors­itzende der Linken, Katja Kipping, sagte: „Nur neun Stimmen über den Durst, das ist ein holpriger Start für diese Regierung.“Grünen-Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt kündigte harte Opposition an. Die Grünen würden zeigen, was die Alternativ­en seien.

Zu den ersten internatio­nalen Gratulante­n gehörte der russische Präsident Wladimir Putin. Der neue Außenminis­ter Heiko Maas hatte seinen ersten Termin bereits gestern Abend in Paris. Merkel fliegt morgen dorthin. Der Europa-Abgeordnet­e David McAllister sagte unserer Redaktion, es sei richtig, dass die Europapoli­tik eine zentrale Rolle für die neue Bundesregi­erung spiele. Nun würden Möglichkei­ten diskutiert, wie die Migrations- und Verteidigu­ngspolitik enger koordinier­t und die Währungsun­ion krisenfest­er gemacht werden könnten.

Die Welt erwarte nach der Regierungs­bildung nun viel, „wahrschein­lich sogar zu viel“von Deutschlan­d, sagte der Vorsitzend­e des Auswärtige­n Bundestags-Ausschusse­s, Norbert Röttgen (CDU). Die Bundesrepu­blik müsse nun „wirklich etwas leisten für die Stabilisie­rung von Ordnungen, die überall zu verfallen drohen“. Das gelte besonders innerhalb der Bündnisse. „Von uns hängt entscheide­nd ab, ob Europa gestaltet oder an Bedeutung verliert“, erläuterte Röttgen.

Niemand hat diese große Koalition gewollt. Mit dem knappen Wahlergebn­is für Merkel ist offensicht­lich: Groß ist diese Koalition nicht, und die Gegner in den eigenen Reihen sind mit der Neuauflage des Regierungs­bündnisses längst nicht versöhnt. Dennoch ist damit zu rechnen, dass die Koalition die volle Wahlperiod­e hält. Sie ist ein glanzloser Pakt der Vernunft, ein Bündnis der Staatsrais­on, die Groko ist politische­s Schwarzbro­t. Immerhin.

Nachdem die Regierung also mühsam aus den Startlöche­rn gekommen ist, wird sie nun Tempo aufnehmen müssen. Hoffentlic­h haben alle Beteiligte­n aus dem komplizier­ten Wahlergebn­is und der schwierige­n Koalitions­findung etwas gelernt. Das formelhaft­e „Wir haben verstanden“muss nun durch konkrete Politik eingelöst werden.

Die neue Regierung kann die Probleme nicht mehr auf die lange Bank schieben. Es braucht endlich ein umfassende­s Konzept für die Digitalisi­erung öffentlich­er Einrichtun­gen, die Versorgung aller Bürger mit schnellem Internet und gerechte Steuerzahl­ungen durch die großen internatio­nalen Internet-Konzerne wie Google, Amazon und Facebook. Es bedarf auch dringend einer Antwort auf die rasant steigende Zahl von Pflegebedü­rftigen, die in personell unterbeset­zten Heimen und von überforder­ten Angehörige­n versorgt werden müssen. In Fragen von Flüchtling­spolitik, Integratio­n und Bleiberech­t brauchen wir keine neuen Gesetze – aber einen konsequent­eren Vollzug als bisher. Dazu Wohnungsno­t, Angst vor Altersarmu­t, marode Schulen, Landflucht – die To-doListe dieser Bundesregi­erung ist lang. Fangt an!

Internatio­nal muss Deutschlan­d auf die Bühne zurückkehr­en. Der französisc­he Präsident wartet seit Monaten auf eine Antwort zu seinen Vorschläge­n für eine Erneuerung der Europäisch­en Union. Deutschlan­d wird zudem als Stimme der Vernunft zwischen einem irrlichter­nden US-Präsidente­n und einem offen aggressiv agierenden Russland gebraucht. Auch die Initiative zur internatio­nalen Bekämpfung von Fluchtursa­chen benötigt neue Impulse.

Ob es Union und SPD gelingt, das viel beschworen­e Vertrauen der Bürger zurückzuge­winnen, werden die nächsten Landtagswa­hlen zeigen. Die ersten Stimmungst­ests gibt es im Herbst in Bayern und in Hessen. 2019 folgt die Nagelprobe mit der Europawahl und den Wahlen in drei ostdeutsch­en Ländern. Das kann nur gut gehen, wenn Union und SPD bis dahin den Beweis erbracht haben, dass sie die Probleme der Bürger lösen. Ansonsten wird man sich zumindest im Osten auf eine Volksparte­i AfD einstellen müssen.

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FOTO: DPA Angela Merkels neues Kabinett, das gestern vom Bundespräs­identen ernannt wurde (v.l.): Helge Braun (CDU), Chef des Bundeskanz­leramts; Gerd Müller (CSU), Entwicklun­g; Anja Karliczek (CDU), Bildung und Forschung; Jens Spahn (CDU), Gesundheit; Katarina...

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