Das Haus der 20.000 Bücher
Binnen zweier Jahre waren mit Ausnahme der wenigen Tausend, die hatten entkommen können und sich den Partisaneneinheiten in den umliegenden Wäldern anschlossen, alle getötet worden. (Minsk war, wie die Historikerin Barbara Epstein in ihrem Buch The Minsk Ghetto 1941–1943 darlegte, einer der wenigen Orte, an denen es kommunistischen Partisanen außerhalb und Widerständlern innerhalb des Ghettos gelang, ihre Aktionen aufeinander abzustimmen.) Sie wurden entweder im Ghetto ermordet oder am Rand von Massengräbern in Tutschinka und anderen Dörfern nahe Minsk erschossen. Noch bevor Auschwitz und die anderen Vernichtungslager als voll „funktionsfähig“galten, existierten die jüdischen Gemeinden in Weißrussland, in die Chimen hineingeboren worden war, nicht mehr. Die Bewohner waren abgeschlachtet worden; in ihre Schlupfwinkel hatte man Granaten geworfen und die Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. Überlebende, die sich während der Massentötungen versteckt hatten, wurden unter den Trümmern begraben. Galgen säumten die zentralen Plätze der Städte, und die jüdische Bevölkerung wurde nach und nach ausgelöscht: erschossen, erstochen oder in fahrbaren Gaskammern vergiftet.
Was die Massaker in Sluzk anging, so fand Ilja Ehrenburg einen Brief von einer jungen Frau namens Manja Temtschina, die sich hatte retten können, indem sie auf der Fahrt zur Mordstätte von einem Lkw sprang: „Am Montag, dem 6. Februar 1943, war die ganze Gegend umzingelt, und sie begannen, Menschen auf Lastwagen zu laden. Pinchos holten sie als Ersten ab, dann Mamma und die Kinder. Das war um neun Uhr morgens. Mich schleppten sie nachmittags um eins weg. Ich höre immer noch die Schreie unserer kleinen Schwestern, bevor sie erschossen wurden.“In Städten wie Minsk sprachen zeitgenössische Schriftsteller, welche die Gräuel durchlebt hatten und nach Worten für das Geschehene suchten, von „Pogromen“. Sie schrieben über eine Pogromwelle nach der anderen, in einem unvorstellbaren Ausmaß, sogar für diejenigen, die Kischinjow und die anderen Schreckenstaten in den letzten Jahrzehnten des Zarismus überlebt hatten; über Pogrome, durchgeführt von den Ortspolizisten und den Einsatzgruppen der Waffen-SS, die Abertausende in wenigen Tagen ungehemmter Grausamkeit das Leben gekostet hatten. Aber das Wort wurde dem Ausmaß der Verbrechen nicht gerecht. Innerhalb weniger Jahre sollte ein neuer Begriff aufkommen: Holocaust oder – auf Hebräisch – Schoah.
Chimen und die anderen Theoretiker im Jewish Affairs Committee hatten in den Kriegsjahren und noch lange danach einfache Antworten auf die makabren Fragen, die der Holocaust aufwarf (Außenstehenden mochten sie allerdings oftmals gewunden erscheinen). In einem maschinegeschriebenen Merkblatt erklärte das Komitee dem britischen Publikum in zehn Punkten, „warum Juden für die Kommunisten stimmen sollten“– nach der nationalsozialistischen Niederlage und zu Beginn des Kalten Krieges: „Die Kommunistische Partei weiß, dass die Tage der Pogrome und des Antisemitismus in Russland vorbei sind und dass die Juden dort Freiheit und Gleichberechtigung mit anderen Sowjetbürgern genießen. Aus diesem Grund rüsten die europäischen und amerikanischen Kapitalisten auf, und deshalb wird ein nazistisches Wiedererwachen gefördert. Sie alle neigen dem Faschismus zu.“
Und wieder kehre ich im Geiste zu der Entschlossenheit meines Großvaters zurück, mit der er nach einem sicheren Zufluchtsort für das Volk und die Kultur, aus der er hervorgegangen war, suchte: einem Ort, an dem die Juden keinen mörderischen Angriffen ausgesetzt waren. Seine Bewunderung der Sowjetunion in jungen Jahren lässt sich zumindest teilweise auf jene Suche zurückführen. Denn während die UdSSR keineswegs zögerte, Religionsführer zu verfolgen, hatte sie den Antisemitismus offiziell als Schwerverbrechen eingestuft. Und seit Ende der zwanziger Jahre – verstärkt seit 1934 – hatte sie eine Form des inländischen Zionismus gefördert, indem sie die Jüdische Autonome Region Birobidschan in Sibirien einrichtete und die Juden ermunterte, in dieses Gebiet zu ziehen, wo die jiddische Kultur angeblich blühen werde. 1944 sammelten Gemeindevorstände in Birobidschan 72.000 Unterschriften unter ein Dokument, das sie Stalin schickten; darin lobten sie seine Führerschaft während des Krieges und seine Rolle als „weiser und fähiger Stratege der alles besiegenden Kraft des Fortschritts, dessen Dienste für die Geschichte und die Menschheit so unzählbar sind wie die Sterne am Himmel und die Sandkörner an der Meeresküste!“. Die Menge der Unterzeichner überrascht ein wenig, denn laut einem Bericht, den das in New York City ansässige Institute of Jewish Affairs 1941 veröffentlichte, waren nicht mehr als maximal 60.000 Juden in das Gebiet umgesie- delt. Andererseits war diese Übertreibung vielleicht eine lässlichere Sünde als der Unsinn, den sie in dem Begleitschreiben verzapften. Wie so vieles, was mit dem osteuropäischen Judentum zu tun hatte – beispielsweise das jüdische East End, in dem Shapiro, Valentine & Co. lag –, war auch Birobidschan zu dem Zeitpunkt, als ich alt genug war, um in Chimens Büchern zu blättern, nur noch ein weiteres Echo, eine gespenstische, flüchtige Vision aus der Vergangenheit, denn die Säuberungen von 1936 und 1948–52 hatten die jüdische Identität des Gebiets geschwächt. Es existiert immer noch, doch hauptsächlich dem Namen nach, als Ideal eines jiddischsprachigen Heimatlands, einer eigenständigen Gemeinschaft in einem längst zerbrochenen Staat.
Kurz nachdem ich Dawidowiczs Werk gelesen hatte, erklärte ich Chimen, dass Hitler verrückt gewesen sein müsse. Ich erinnere mich, dass mein Großvater wütend auf mich wurde, seine Augen glühten förmlich vor Leidenschaft. Eine solche Diagnose, erwiderte er – sein Akzent war noch stärker als sonst, und er wedelte mit dem Zeigefinger vor meinem Gesicht herum – verschaffe Hitler und den Deutschen einen Freibrief und hebe in gewisser Weise die Ungeheuerlichkeit ihrer Verbrechen auf. Um den Holocaust zu begreifen, müsse man die gigantischen Systeme – politischer, wirtschaftlicher, bürokratischer Art – erforschen, die ihn gestützt hätten.