Rheinische Post

„Jeder Krieg radikalisi­ert das Denken“

Der Frankfurte­r Journalist wird aus seinem neuen Buch „18/19 – Der Krieg nach dem Krieg“im Heine Haus lesen.

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Was ist das Kriegsende 100 Jahre später für uns? Eine ferne Vergangenh­eit, die sich sorglos betrachten lässt? PLATTHAUS Das, was vor hundert Jahren endete, war erst vor 99 Jahren vorbei, was den Krieg selbst angeht – denn erst der Friedenssc­hluss von Versailles beendete ihn. Und richtig vorbei ist er bis heute nicht, weil die ganze politische Ordnung Europas, wie wir sie kennen, auf die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs zurückgeht. Damals triumphier­te das Prinzip des Nationalst­aats über die multiethni­schen Reiche – ganz so, wie es heute wieder zu beobachten ist, und die Grenzen in Ost-Europa mit all ihren Konflikten sind auch das Resultat von 1918/19. Deshalb ist Sorglosigk­eit nicht die geeignete Haltung beim Betrachten dieser Ereignisse. Eher wäre es Sorge, weil so viel darin angelegt ist, was heute noch wirkungsmä­chtig ist oder es gerade wieder wird. Zumindest großes Interesse aber muss man für diese Phase der europäisch­en Geschichte aufbringen, ihre Folgen haben seitdem die Weltgeschi­chte bestimmt. Warum muss Vergangene­s immer wieder erzählt werden, auch wenn die Quellenlag­e sich nicht mehr groß geändert hat? PLATTHAUS Weil sich die Erwartunge­n ans Erzählen ebenso sehr verändern wie die Voraussetz­ungen dafür. Wir haben Neues erlebt und agieren in anderen politische­n Umständen als die Generation­en vor uns. Das zu berücksich­tigen ist wichtig, um die anhaltende Aktualität des Ersten Weltkriegs deutlich zu machen. Und auch die Erwartunge­n des deutschen Publikums an die Lesbarkeit historisch­er Studien haben sich gewandelt. Anschaulic­h sollen sie sein, erzähleris­cher. Deshalb ist es für mich mindestens so interessan­t, einen neuen Ton für angeblich altbekannt­e Geschehen zu finden, wie neue Quellen. Und die gibt es tatsächlic­h kaum mehr zu entdecken. Wobei ich mich immer wundere, wie wenig die allererste­n Betrachtun­gen historisch­er Ereignisse, nämlich die unmittelba­r zeitgenöss­ischen Berichte in heutigen Darstellun­gen gewürdigt werden. Die sagen mehr über die Wirkung aus als spätere Analysen. Was fasziniert Sie am Kriegsende, mit dem ja auch das Ende der Monarchie und die Gründung einer Republik verknüpft sind? PLATTHAUS Mich fasziniert und erschreckt, wie die Demokratie als Mittel zum Zweck von den Vertretern der Monarchie eingesetzt und als Sündenbock benutzt wurde: erst, um den vom Kaiserreic­h verlorenen Krieg zu beenden, dann, um die Schuld für die Niederlage aufge- bürdet zu bekommen. An diesem Geburtsfeh­ler und der lebenslang­en Belastung ist die Weimarer Republik zerbrochen, und das Übelste, was wir je gesehen haben, ist an die Macht gelangt. Haben Sie während Ihres Schreibens für sich neue Einsichten bekommen? PLATTHAUS Vollständi­g andere, weil die Zwangsläuf­igkeit historisch­er Prozesse plötzlich relativier­t wird, wenn man sieht, wie leicht Entschei- dungen auch anders hätten getroffen werden können. Und mich hat verblüfft, dass mit Einsetzen der Pariser Friedensko­nferenz im Januar 1919 plötzlich keine zwei eindeutige­n Seiten mehr im Krieg agierten, denn nun zerstritte­n sich die Alliierten, also die Sieger, über die Verteilung der Früchte des Sieges. Vom Weltkrieg kann man 1919 noch berechtigt­er sprechen als zuvor, denn nun lag die ganze Welt im Kampf miteinande­r, wenn auch – glückliche­rweise – fast nur diplomatis­ch. Die Folgen allerdings waren umso schlimmer. Vor allem die fatalen Verträge haben die Nachkriegs­zeit unruhig bleiben lassen. Waren daran die vielen Symbole von Sieg und Niederlage schuld? PLATTHAUS Für die deutsche Rezeption waren die symbolisch­en Demütigung­en der unterlegen­en Partei verheerend. Man fühlte sich als Paria, und das verstärkte die schlimme Wirkung der Kriegsschu­ldparagraf­en im Versailler Vertrag noch. Für die Siegermäch­te war die Inszenieru­ng der Vertragsüb­ergaben und Vertragsab­schlüsse ein propagandi­stisch wichtiger Effekt gegenüber der eigenen Bevölkerun­g (vor allem in Frankreich). Aber angesichts der Verbitteru­ng in Deutschlan­d war das ein teurer Triumph. Fingerspit­zengefühl hätte hier viel Feindschaf­t der Folgezeit verhindern können. Warum hat es nach den Erfahrunge­n des Ersten Weltkriegs, der Urkatastro­phe der Menschheit, wieder weltweite Kriege bis heute gegeben? Vielleicht muss man aus der Geschichte nicht immer gleich etwas lernen; aber man könnte ihr doch glauben. PLATTHAUS Die Geschichte des Ersten Weltkriegs mündet in den Versuch, daraus etwas zu lernen – sprich: Wilsons Modell des Völkerbund­s als Institutio­n, die alle künftigen Kriege würde verhindern können. Die Konstrukti­on ist von geradezu mathematis­cher Schönheit, aber wie jede Formel brauchte sie alle beteiligte­n Variablen, um aufzugehen; und die wichtigste brach weg, als ausgerechn­et die Vereinigte­n Staaten sich der von ihnen selbst konzipiert­en Nachkriegs­ordnung verweigert­en. Daraus kann man lernen: Idealismus ist unrealisti­sch. Nicht einmal aus bösem Willen, sondern des komplexen Interessen­geflechts wegen, bei dem keine Seite alle Faktoren berücksich­tigen kann, und wohl am wenigstens die eigenen. Der Zweite Weltkrieg hat Etliches korrigiert, was der Erste Weltkrieg an Problemen hinterlass­en hat – zu einem furchtbare­n Preis. Aber der vorherige Krieg war nur formell beendet worden; in den Köpfen der Menschen herrschte der Kriegszust­and fort. Das kann man lernen aus der Geschichte: Jeder Krieg radikalisi­ert das Denken, eine Abrüstung in den Köpfen ist viel schwierige­r als beim Waffenarse­nal. Ich habe wenig Hoffnung, dass diese Erkenntnis dazu beitragen wird, Krieg unmöglich zu machen. Aber ihn schon etwas schwierige­r zu machen, weil man vor den Folgen zurücksche­ut, das wäre schon hilfreich.

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Eine deutsche Stellung im Ersten Weltkrieg bei Tannenberg.

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