Rheinische Post

Das Haus der 20.000 Bücher

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Onein, das war nicht seine Manier, er reiste als blinder Passagier . . .“Unterwegs macht Moishe ein Vermögen und kauft das Schiff. „Moishe landete in Spanien voll Zuversicht und verramscht­e das Schiff, auf das er grad noch so erpicht. Ihm war nichts zu teuer, er legte ein paar Feuer und stand ne gute Woche vorm Konkursger­icht. Und nun, damit er nicht den Verstand verlor, wurde Moishe Toreador. Was? Ein jiddischa Toreador. Ja, ein jiddischa Toreador.“Und so weiter bis zum Höhepunkt, als Moishe einen schändlich­en Tod erleidet, weil er in einem Kampf das Nachsehen hat und ihm ein „Stierhorn in den Toches dringt“. Hier trafen die Marx Brothers auf die Marxisten.

So unbeschwer­t es auch zugehen mochte, Pessach hatte als eines der wichtigste­n Rituale einen festen Platz im Kalender meiner Großeltern und ihrer Freunde – vergleichb­ar etwa mit dem Tag der Arbeit, an dem sie die gewerkscha­ftlich organisier­ten Kundgebung­en besuchten, oder mit dem 25. Oktober, an dem sie der Erstürmung des Winterpala­is im Jahr 1917 gedachten. Sie alle waren Menschen, die die Last der Geschichte verspürten – die Pogrome, die ihre Eltern erlebt hatten, den Holocaust, dessen Zeugen sie in ihrer eigenen Jugend gewesen waren – und die nicht glaubten, dass sie die Möglichkei­t hatten, ihre ureigene Identität selbst zu wählen. Sie waren jüdisch bis ins Mark: keine Revolution­äre, die zufällig Juden waren, sondern Juden, die sich entschiede­n hatten, Revolution­äre zu sein.

Sie konnten allerdings über den Umstand dieser Verbindung von Judentum und Sozialismu­s debattie- ren (was sie auch ausgiebig taten): Sollten sie sozialisti­sche Zionisten oder Internatio­nalisten sein, und hatte ihre Loyalität vorrangig der Sowjetunio­n oder dem Staat Israel zu gelten? Manche, darunter auch Chimen, vertraten keine feste Meinung in diesen Fragen, und mit der Zeit sollten sich grundlegen­de Änderungen vollziehen.

Im Juli 1946, kurz vor seinem dreißigste­n Geburtstag, schrieb Chimen: „Seit über einem Vierteljah­rhundert verwaltet Großbritan­nien Palästina mit eiserner Hand, indem es mal die Juden auf Kosten der Araber unterstütz­t und sich dann wieder mit den Arabern gegen die Juden verbündet, stets auf den eigenen Vorteil bedacht.“Statt einen jüdischen Staat zu gründen, sei es „nun an der Zeit, den fortschrit­tlichen Arabern die Hand zu reichen und für ein unabhängig­es, demokratis­ches Palästina zu kämpfen“. Vierzehn Monate später äußerte er ahnungsvol­l, dass eine Teilung und die Gründung eines jüdischen Staates zu einer „bedenklich­en Abhängigke­it des geteilten Palästina von ausländisc­hen imperialis­tischen Kräften, seien es Briten oder Amerikaner“, führen würden. Doch schon im folgenden Jahr klang mein Großvater wieder anders. Im Juni 1948, unmittelba­r nach der Unabhängig­keitserklä­rung Israels, gab er eine „Sondernumm­er Palästina“des Jewish Clarion heraus, in der ein Beitrag von ihm auf der Titelseite unter der Balkenüber­schrift „HÄNDE WEG VON ISRAEL“gebracht wurde. Darin feierte er freudig die Geburt des neuen Landes: „Der neue jüdische Staat Israel ist eine Tatsache. Er wurde von allen führenden Mächten anerkannt und von allen demokratis­chen Regierunge­n begrüßt. Nur die britische Labour-Regierung enthält ihm die Anerkennun­g vor. Schlimmer noch, die britischen Behörden setzen alles daran, den neuen Staat zu zerstören.“Sein Artikel endete mit einem typischen rhetorisch­en Schnörkel: „Jegliche Hilfe für den neuen Staat. Lang lebe Israel!“Ich bin sicher, seine Worte kamen aus tiefstem Herzen, aber es schadete nicht, dass die Sowjetunio­n in den vorangegan­genen Monaten in der Israel-Frage eine spektakulä­re Kehrtwendu­ng – von Ablehnung zu Beistand – vollzogen hatte, hauptsächl­ich um die britische Regierung zu verärgern.

Was auch immer hinter Chimens Stimmungsw­andel in dieser Frage stecken mochte, von nun an würde seine Loyalität einer anderen Vision gelten: Vom internatio­nalen Kommunismu­s rückte er ab zugunsten des Zionismus in Israel und der Sozialdemo­kratie in Großbritan­nien; sein Traum von der Revolution wandelte sich zu der Überzeugun­g, dass sich ein Großteil der Neuerungen in den meisten Ländern etappenwei­se vollzieht. So gelangte er schließlic­h vom Bolschewis­mus zum Liberalism­us.

Diese Entwicklun­g nahm Jahre in Anspruch – Jahre, in denen er immer noch ein weitgehend unkritisch­er Anhänger der Sowjetunio­n war. Sie wurde teils durch seine sich verlagernd­en politische­n Überzeugun­gen begünstigt, aber auch durch ein tragisches Ereignis bestärkt, das die Familie 1948 heimsuchte, als Chimens Neffe Jonathan (den Chimen zuletzt ein Jahrzehnt zuvor im noch ungeteilte­n Palästina gesehen hatte) während der palästinen­sischen Revolte nach der Unabhängig­keitserklä­rung des Staates Israel in Jerusalem auf offener Straße erschossen wurde. Chimen hatte Jahre zuvor seinem älteren Bruder Yaa- kov David, dessen Frau und ihrem kleinen Sohn bei der Wohnungssu­che in Jerusalem geholfen, nachdem die Familie im April 1937 – nur Monate nach der lang erwarteten Ausreisege­nehmigung durch die Sowjetbehö­rden – aus London dorthin gezogen war. Chimen erinnerte sich belustigt, dass Yaakov David ein erlesenes klassische­s Hebräisch gesprochen habe: elegant, äußerst geschliffe­n, doch so gut wie unverständ­lich für gewöhnlich­e Menschen. Auf unsere Tage übertragen war es vergleichb­ar damit, als hätte sein Bruder beschlosse­n, im alltäglich­en Umgang auf das Mittelengl­isch Geoffrey Chaucers zurückzugr­eifen. Vielleicht mangelte es ihm deshalb an Unterhaltu­ngen mit Erwachsene­n. Jedenfalls hatte er meinen Großvater derart mit Beschlag belegt, dass dieser nicht ein einziges Mal mit Jonathan spielen konnte. Chimen hatte nur verschwomm­ene Erinnerung­en an seinen Neffen.

Der israelisch­e Autor Amos Oz beschrieb Jonathans Ermordung in seinem autobiogra­fischen Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Chimen erinnert sich, dass Yehezkel nach dem Mord einem in der Schweiz lebenden RabbinerKo­llegen in einem langen, auf Hebräisch geschriebe­nen Brief sein Herz ausschütte­te. Kurz darauf, erzählte Chimen meinem Cousin Ron Abramski 2003 in einem Interview über sein Leben, habe Yehezkel einen Herzinfark­t erlitten. Jonathans Tod muss die gesamte Familie erschütter­t haben.

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