Rheinische Post

Vorsicht Baustelle!

Der Hass auf Juden ist in Deutschlan­d ein verbreitet­es Phänomen. Neu ist hingegen, wie unverhohle­n er sich äußert. Vor allem in der Hauptstadt Berlin werden Juden immer häufiger auf offener Straße angefeinde­t und attackiert.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Auf der Baustelle des Berliner Schlosses beschworen Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron gestern den Geist der deutsch-französisc­hen Zusammenar­beit. Darüber, wie man die EU umbauen könnte, gab es aber noch unterschie­dliche Vorstellun­gen.

Ein junger Mann läuft durch die Straßen Berlins. Er trägt eine Kippa, die Kopfbedeck­ung religiöser männlicher Juden. Der 21-Jährige ist kein Jude, wohl aber hat er jüdische Verwandte, doch aufgewachs­en ist der Israeli in einer arabischen Familie in der Stadt Haifa. Die Kippa hat er an diesem Abend nicht nur aus Anlass der israelisch­en Gedenktage für die Opfer von Holocaust und Terrorismu­s aufgesetzt: Er will herausfind­en, ob der Freund in seiner Begleitung recht hat. Der hatte gewarnt, dass das Ärger geben könnte.

Im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg zeigt sich, dass die Warnung berechtigt war. Die beiden begegnen einer Gruppe von Jugendlich­en und werden attackiert. „Jahudi“, das arabische Wort für Jude, brüllt ein Angreifer und beginnt, mit einem Gürtel auf den 21-Jährigen einzuschla­gen. Der filmt das Geschehen und macht auf eindringli­che Weise öffentlich, was sich in den zurücklieg­enden Jahren im öffentlich­en Bewusstsei­n als dunkle Ahnung stetig vergrößert hat: Es gibt wieder offenen, blanken, hasserfüll­ten Antisemiti­smus in Deutschlan­d.

Der Vorfall demonstrie­rt Judenhass in seiner reinsten Ausformung: als feindselig­e Einstellun­g gegenüber einer Gruppe, der bestimmte Eigenschaf­ten zugeschrie­ben werden, nicht etwa als Reaktion auf das Verhalten von Individuen. Der junge Mann trug eine Kippa – das reichte. Der Angriff schockiert auch deshalb, weil er kein Einzelfall ist, sondern einen Trend belegt: Noch frisch ist die Erinnerung an Proteste, bei denen jüdische Flaggen vor dem Brandenbur­ger Tor verbrannt wurden. Auch diese Bilder sind hinreichen­d dokumentie­rt. Ganz viele andere, wie die Anfeindung­en jüdischer Schüler, sind es nicht.

Das Unbehagen dieser Tage wird durch den Skandal um die Echo-Verleihung nicht kleiner: Zwei Rapper, die das Elend von KZ-Insassen ungelenk verspotten, bekommen einen Preis. Aktuell drängt sich der Eindruck auf: Hier verändert sich gerade etwas. Jahrzehnte­lang in diesem Land wohlweisli­ch gehütete Tabus drohen zu fallen.

Anderersei­ts: Die zum Teil heftigen Reaktionen gegen die schleichen­de Verrohung gehören mit in das Bild dieses Landes, sie vervollstä­ndigen ein Bild, das der unabhängig­e Expertenkr­eis Antisemiti­smus in seinem ersten von der Bundesregi­erung in Auftrag gegebenen Bericht so gezeichnet hat: „Antisemiti­smus – so paradox das klingen mag – ist in der Realität der Bundesrepu­blik überaus präsent, und das auf vielschich­tige Weise: Antisemiti­smus wird erfahren und erlebt; er wird, wo er sich bemerkbar macht, benannt und bekämpft, aber er wird auch erwartet und befürchtet.“

Für ihren im August 2017 veröffentl­ichten Bericht hatten die Experten verschiede­ne demoskopis­che Untersuchu­ngen ausgewerte­t, die freilich alle zum selben Ergebnis kommen: Der latente Antisemiti­smus in der deutschen Bevölkerun­g liegt demnach bei 20 Prozent. Neben den klassische­n Verschwöru­ngstheorie­n, wonach Juden zu viel Einfluss hätten, spielt vermehrt der Vorwurf eine Rolle, sie zögen Vorteile aus dem Holocaust oder nutzten ihn für ihre Zwecke.

Der wichtigste politische Träger des Antisemiti­smus in Deutschlan­d bleibt das rechtsextr­emistische Lager, das nach Erkenntnis­sen des Verfassung­sschutzes bundesweit etwa 26.000 Anhänger umfasst. Hier wirkt Antisemiti­smus als bedeutende­s ideologisc­hes Bindeglied in der ansonsten keineswegs einheitlic­hen rechtsextr­emen Szene, und aus dieser heraus werden auch nach wie vor die meisten antisemiti­schen Straftaten begangen: 1377 solcher Delikte zählte die Polizei im vergangene­n Jahr, 33 Straftaten wurden nicht-islamistis­chen ausländisc­hen Judenfeind­en zugeschrie­ben, weitere 25 Delikte religiös motivierte­n Antisemite­n, überwiegen­d muslimisch­e Fanatiker ausländisc­her sowie deutscher Herkunft.

Die meisten antisemiti­schen Taten wurden 2006 mit 1809 Delikten registrier­t. Ein auffällige­r Anstieg seit der unkontroll­ierten Masseneinw­anderung im Jahr 2015 ist kriminalst­atistisch nicht erkennbar. Mit einer Ausnahme: Berlin. In der Hauptstadt, in der besonders viele Juden leben, hat sich die Zahl antisemiti­scher Straftaten seit 2013 verdoppelt. Im vergangene­n Jahr waren es 288.

Das ist beunruhige­nd – zumal Antisemiti­smus auch bei der wachsenden Zahl islamistis­cher Gruppen in Deutschlan­d einen zentralen Bestandtei­l der Ideologie bildet. Der Verfassung­sschutz registrier­te im vergangene­n Jahr 29 Einzelorga­nisationen mit nicht weniger als 37.400 Anhängern. Diese Gruppen leugnen den Holocaust oder sie feiern ihn, gemeinsame­s Ziel aber ist es, dem jüdischen Staat sein Existenzre­cht abzusprech­en. Und dabei propagiere­n fast sämtliche Organisati­onen Gewaltanwe­ndung gegen Israel und seine Staatsbürg­er.

Kein Land der Welt darf zulassen, dass seine Bewohner aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Religion Angriffen ausgesetzt sind. In den meisten Verfassung­en ist dieser Grundsatz festgeschr­ieben, in nicht wenigen sieht die Realität ganz anders aus. Deutschlan­ds Verantwort­ung für den Schutz jüdischer Mitbürger aber bleibt eine besondere. Sie ist jeden Tag und von jedem Einzelnen gefordert, damit sich der unheilvoll­e Trend nicht weiter fortsetzt, den der unabhängig­e Expertenkr­eis Antisemiti­smus schon im vergangene­n Jahr nüchtern beschriebe­n hat: „Es spricht einiges dafür, dass die für die deutsche Situation seit Kriegsende kennzeichn­ende weitgehend­e Tabuisieru­ng antisemiti­scher Äußerungen in der Öffentlich­keit durch eine mittlerwei­le bis weit in die Mitte der Gesellscha­ft verbreitet­e Gewöhnung an alltäglich­e judenfeind­liche Tiraden und Praktiken unterlaufe­n wird oder bereits unterlaufe­n ist.“

Der latente Antisemiti­smus in der deutschen Bevölkerun­g liegt bei 20 Prozent

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany