Wieder da
Seit Jahren gehört der Begriff der „christlich-jüdischen Tradition“zur öffentlichen Sprache. Theologisch mag das zutreffen – politisch ist es Geschichtsklitterung. Diese Tradition gibt es in Deutschland erst seit 1945.
Vor ziemlich genau 15 Jahren war’s. Am 29. Mai 2003. Weil der frühere Europapokal-Finalist Fortuna Düsseldorf tief im Mittelfeld der vierten Liga versandet war, organisierte die örtliche Sportpresse das Spiel „Mythos Fortuna“. Die mausgraue Oberliga-Mannschaft von 2003 kickte im ausverkauften Paul-Janes-Stadion gegen die Aufstiegshelden von 1995, und auf der gemeinsamen Ehrenrunde spielte die Stadionregie Nenas Song „Wunder gescheh’n“. Damals nicht mehr als eine vage Hoffnung auf bessere Zeiten, doch jetzt ist Fortuna, seinerzeit hochverschuldete Ruine eines Vereins, durch das 2:1 in Dresden zurück in der ersten Bundesliga.
Ein sportliches Wunder? Irgendwie schon. Man muss ja nur die traurige Geschichte anderer Traditionsvereine betrachten, die wie die Düsseldorfer in die Viertklassigkeit oder noch tiefer gerutscht waren. Rot-Weiss Essen, KFC Uerdingen, Wuppertaler SV, Alemannia Aachen – für sie lief es nach dem alten Motto der Box-Weltmeister: They never come back. Fortuna Düsseldorf kam zurück. Doch sie tat es schon einmal: 2012 war das. Das Vergnügen war von kurzer Dauer, denn nach nur einer Saison stiegen die Rheinländer wieder ab.
Startete man in diesem Moment eine deutschlandweite Umfrage, wäre mit Sicherheit eine große Mehrheit der Fußballfreunde der Ansicht, es werde diesmal wieder so laufen. Trotz einer geplanten Verdreifachung des Mannschaftsetats auf 30 Millionen Euro gehören die Düsseldorfer noch immer zum finanziellen Fußvolk der Bundesliga; die Spitze und selbst das Mittelfeld sind weit enteilt.
Doch das passt nicht zum Selbstverständnis der Landeshauptstadt. Sie ist seit Langem im Aufwind, wirkt dynamisch, attraktiv, modern, positiv, erfolgreich. Zu diesem Lebensgefühl gehört die Erstklassigkeit ihres Fußballvereins. Die Realitäten verkennt man dabei mitunter gern: dass Fortuna 2003 am Boden lag, im Würgegriff der an den Kölmel-Konzern Sportwelt verkauften Markenrechte, sportlich wie finanziell am Ende. Dass der Klub sich anschließend zwar entschuldete, nach dem Wiederabstieg 2013 jedoch eine Tal- fahrt hinlegte, die beinahe in der dritten Liga geendet wäre – noch im Sommer 2017.
Die Vereinsführung um den Aufsichtsratsvorsitzenden Reinhold Ernst und den Vorstandsvorsitzenden Robert Schäfer schuf nach und nach neue Strukturen und tat einen goldenen Griff: Sie holte Trainer-Altmeister Friedhelm Funkel. Der heute 64-Jährige, in der Nachbarstadt Neuss geboren, rettete Fortuna vor dem Abstieg und verkündete unmittelbar danach in einem Interview mit unserer Redaktion: „Wenn es gelingt, die jungen Spieler zu halten, dazu vier oder fünf gute Leute dazu zu holen, dann kann auch unser Anspruch sein, nächstes Jahr aufzusteigen.“Er erntete damals viel Spott, doch die Spötter von damals sitzen heute auf der stillen Treppe. König Friedhelm hielt Wort, schaffte seinen sechsten Bundesliga-Aufstieg, der zugleich auch Fortunas sechster ist. Ein Aufstieg wie Phönix aus der Asche.
Die Düsseldorfer kommen als Außenseiter herauf, aber als einer, der besser vorbereitet ist als 2012. Und Augsburg, Freiburg oder Mainz beweisen, dass Bundesliga-Fußball auch ohne das ganz große Geld heute noch möglich ist. Vielleicht muss für Fortuna dennoch ein weiteres FußballWunder geschehen. Doch ganz Düsseldorf ist überzeugt, dass sich das Hoffen darauf lohnt. Wie am 29. Mai 2003. Damit der Fußball auch langfristig zum Lebensgefühl der Stadt passt.
Jetzt ist sie wieder in aller Munde: die christlich-jüdische Tradition. Zuletzt tat sich vor allem die CSU damit hervor, wenn es nämlich darum ging, gegen den Islam zu argumentieren. „Dass Deutschland geschichtlich und kulturell christlich-jüdisch und nicht islamisch geprägt ist, kann doch niemand ernsthaft bestreiten“, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer im März. Die Formel „christlichjüdisch“oder „jüdisch-christlich“findet sich aber, wahlweise in Verbindung mit den Substantiven „Tradition“oder „Grundlagen“, auch in den Programmen von CDU, SPD und AfD. Seit gut zehn Jahren ist sie in der politischen Debatte verstärkt nachweisbar; seit Christian Wulffs Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2010 („Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“) ist das „Christlich-Jüdische“Teil des offiziellen Redekanons.
Das ist eine Anmaßung, und zwar gegenüber den Juden in Deutschland. Aber eine, die auf den ersten Blick überzeugend daherkommt: Unsere Kultur ist religiös geprägt, und das Christentum ist aus dem Judentum entstanden. Theodor Heuss hat von drei Hügeln gesprochen, auf denen das Abendland entstanden sei – Golgatha, der Akropolis und dem Kapitol. Außer in der klassischen Antike wurzeln wir im Christentum, das den Juden Jesus als Gott bekennt. Und beweisen nicht Heinrich Heine, Felix Mendelssohn Bartholdy und Sigmund Freud, wie eng verwoben, ja symbiotisch christliche und jüdische Kultur in Deutschland stets waren?
Schön wär’s. Eine Anmaßung ist es, von christlich-jüdischer Tradition zu reden, weil diese Tradition in Deutschland vor allem aus Ausgrenzen, Entrechten, Vertreiben, Ermorden der Juden durch Nichtjuden – meist Christen – besteht. Schon am Ende des 11. Jahr- hunderts, als der Papst zum Kreuzzug rief, attackierten die Kreuzfahrer auf dem Weg zum Heiligen Grab in ihrem Furor reihenweise die Gemeinden der angeblichen Gottesmörder. Juden wurden für Jahrhunderte Rechtssubjekte zweiter Klasse und stets zum Sündenbock, wenn die Lage schlecht war, etwa zu Pestzeiten. Ihre bürgerliche Gleichberechtigung betrieb nicht die Kirche, sondern die kirchenfeindliche Aufklärung. Vom millionenfachen Mord des Holocaust war da noch gar keine Rede.
Von christlich-jüdischer Tradition sprechen nicht nur Politiker, sondern auch Theologen. In der Tat ist es kein kleines Wunder, wie klar heute die beiden großen Kirchen das Verbindende zwischen Juden und Christen betonen. Wiederkehrende Irritationen wie die Debatten um die katholische Karfreitagsfürbitte alter Form (für die „treulosen Juden“) oder um evangelische Israelkritik (wie jetzt im Rheinland) gehören dazu. Insgesamt aber leitet jenes Wort aus dem Römerbrief des Juden Paulus das Handeln, das die rheinische Kirche 1980 ihrem wegweisenden Synodalbeschluss über das Verhältnis zu den Juden voranstellte: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“
Nun hat die öffentliche Relevanz der Theologen seit Längerem stark nachgelassen. Was also sagen die Politiker? Die benutzen das „Christlich-Jüdische“entweder ausgrenzend, und zwar gegen den Islam, so wie CSU und AfD, oder inklusiv, um das besondere Verhältnis zu den Juden und Israel zu betonen und Zusammenhalt zu beschwören. So pflegt zum Beispiel Angela Merkel vom Christlich-Jüdischen zu reden.
Das Problem ist: Es handelt sich in beiden Fällen um Geschichtsklitterung, bestenfalls um einen Anachronismus, ob nun böse oder gut gemeint. Christlich-jüdische Tradition mit echtem Bindestrich gibt es in Deutschland erst seit 1945. Vorher gab es auch Assimilation und sozialen Aufstieg, aber die meiste Zeit lebte man allenfalls aneinander vorbei – die Juden bis in die Neuzeit oft gezwungen, besondere Kennzeichen zu tragen. Geschützt wurden sie, wenn und weil sie Steuern zahlten. Heine und Mendelssohn, die sich taufen ließen, verkörpern nicht nur die Koexistenz des Jüdischen mit dem Christlichen, sondern auch das Hadern mit der Religion der Väter und die brutale Ausgrenzung. Judenhass wurde christlich begründet, selbst noch von Hitler in „Mein Kampf“: „Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“Auch wenn das reine Propaganda war – der Satz zeigt, an welche Traditionen die Nazis anknüpfen konnten.
Charlotte Knobloch, die frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden, hat jüngst in unserer Zeitung von „unserem christlich-jüdischen Menschenbild“gesprochen. Das ist nur theologisch begründbar. Für die Tagespolitik ist das Christlich-Jüdische – als Tradition, Prägung, Kultur oder Erbe – unbrauchbar. Leitet man es bloß religiös her, springt das im säkularen Staat zu kurz. Leitet man es historisch her, ist es ignorant.
Knobloch hat auch gesagt: „Das heutige Deutschland ist eine gute Heimat.“Es ist berührend, dass Juden in Deutschland überhaupt wieder so etwas sagen. Es klingt obendrein beruhigend, weil man sich davon Normalität suggerieren lassen könnte. Das aber wäre absurd, abgesehen davon, dass es Juden gibt, die es ganz anders sehen als Knobloch: Normalität gibt es wegen des Holocaust in Deutschland nicht, darf es nicht geben. Paradox genug ist dabei, dass Deutschland in Sachen Judenfeindlichkeit mit zuletzt knapp 1500 polizeilich erfassten antisemitischen Delikten pro Jahr international ziemlich „normal“ist. (Trotzdem ist die Zahl unerträglich hoch.)
Der Antisemitismus hierzulande war nie weg. Er äußert sich, verstärkt auch durch die Flüchtlingskrise, nur wieder ungenierter. Trotzdem wäre es perfide zu behaupten, muslimische Judenhasser beleidigten unsere schöne christlich-jüdische Tradition. Diese Tradition hat zu Heines Gedichten geführt, aber auch nach Auschwitz. Wir sollten aufhören, uns da etwas vorzumachen.
Für die Tagespolitik ist die Formel vom Christlich-Jüdischen unbrauchbar