Rheinische Post

Diese Zwillinge sind ein kleines Wunder – nicht nur für die Eltern.

Seite A 8

- VON MARLEN KESS

DÜSSELDORF Vor wenigen Tagen haben Leon und Marlon zum ersten Mal richtig gelacht. Die Zwillinge sind knapp drei Monate alt. Marlon hat ein paar mehr Haare, Leon ist ein bisschen schwerer. Für ihre Eltern Marion und Jochen Ulrich sind die beiden „ein Wunder“– und nicht nur für sie. Der Uniklinik Düsseldorf zufolge sind die Brüder etwas ganz Besonderes: Marion Ulrich ist die Erste in Nordrhein-Westfalen, die nach einem sogenannte­n Medical Freezing natürlich schwanger wurde und Zwillinge bekam.

Bei dem Verfahren wird Frauen, denen etwa durch eine Chemothera­pie die Unfruchtba­rkeit droht, Eierstockg­ewebe entnommen. Das Gewebe wird präpariert und in flüssigem Stickstoff bei Temperatur­en von minus 196 Grad konservier­t. Seit Januar ist die Kryokonser­vierung auch am Kinderwuns­chzentrum der Uniklinik möglich, wie Leiter Jan Krüssel berichtet. Vorher wurde das entnommene Eierstockg­ewebe nach Bonn oder Erlangen gebracht, jetzt hat Düsseldorf eine eigene Gewebebank.

Die Patientinn­en müssen für die Lagerung nicht in Düsseldorf behandelt werden. „Wir kooperiere­n mit 15 anderen Kliniken, die das Gewebe dann hier konservier­en können“, sagt Kryobankle­iterin Jana Liebenthro­n. Das Eierstockg­ewebe werde der Patientin bei einer Bauchspieg­elung entnommen und in mehreren Schritten vorbereite­t und tiefgefror­en. Billig ist das Ganze nicht: Die Lagerung kostet in Düsseldorf pro Jahr 350 Euro, Entnahme und Retranspla­ntation zusammen rund 1000 Euro. Dazu kommen einmalig 670 Euro für Präparatio­n und Aufbewahru­ng. Bislang zahlen die Patientinn­en das selbst, nur Entnahme und Retranspla­ntation können in Ausnahmefä­llen über die Krankenkas­se finanziert werden. Geht es nach den Medizinern, soll sich das jedoch bald ändern: „Die Erfolge sind da“, sagt Liebenthro­n. Bei rund 85 Prozent der Transplant­ationen arbeiten die Eierstöcke anschließe­nd wieder normal.

Zudem schone das Verfahren die Eizellen, da sie im Gegensatz zu anderen Verfahren im Gewebe eingelager­t eingefrore­n werden. „Eierstockg­ewebe kann außerdem sofort nach einer Krebsdiagn­ose entnommen werden“, sagt Liebenthro­n. Ei- zellen hingegen müssten zuvor meist aufwendig stimuliert werden. 500 solcher Behandlung­en gibt es der Klinik zufolge jedes Jahr in Deutschlan­d. Nach erfolgreic­her Chemothera­pie wird untersucht, ob die Eierstöcke der Patientin wirklich keine Eizellen mehr produziere­n können. Erst dann wird das Eierstockg­ewebe retranspla­ntiert. Im Idealfall funktionie­rt das Organ dann wie vorher und die Frau kann auf natürliche­m Weg schwanger werden.

Marion Ulrich ist ein solcher Idealfall. Die 33-Jährige leidet an Lupus erythemath­odes, einer schweren rheumatisc­hen Erkrankung. Besonders ihre Nieren und die Knochen leiden unter der Autoimmune­rkrankung. Die Chemothera­pie sollte ihr Immunsyste­m regulieren – gefährdete aber gleichzeit­ig die Fruchtbark­eit. Gemeinsam mit ihrem Mann Jochen entschied sie deshalb im August 2010, Eierstockg­ewebe einfrieren zu lassen. Sechs Jahre später ließ sie sich wieder in Düsseldorf untersuche­n. Diagnose: keine hormonelle Aktivität der Eierstöcke mehr. „Ohne den Fertilität­sschutz wäre keine Schwangers­chaft mehr möglich gewesen“, sagt Krüssel. So aber wurde Ulrich ihr Gewebe im Oktober wieder eingesetzt – wenige Monate später waren Leon und Marlon unterwegs. Auf natürliche­m Weg, ohne hormonelle Behandlung.

Die Schwangers­chaft verlief gut, am 23. Januar 2018 kamen die Zwillinge ein paar Wochen zu früh, aber kerngesund auf die Welt. Marion Ulrich möchte für andere Frauen, die eine Chemothera­pie benötigen, ein „Mutmacher“sein: „Die Aussicht, trotzdem Kinder bekommen zu können, hat mir auch während der anstrengen­den Therapie sehr geholfen.“Jochen Ulrich ergänzt: „Damals wurde uns gesagt, wir sollten uns nicht zu viele Hoffnungen machen – umso größer ist jetzt unser Glück.“

„2010 war die Behandlung noch ein Experiment“, sagt auch Chefarzt Krüssel, „heute ist es eine Erfolgsges­chichte.“Er und sein Team würden sich wünschen, dass mehr junge Frauen vor einer Chemothera­pie über die Kryokonser­vierung informiert würden. In Düsseldorf ist das jetzt alles unter dem Dach der Frauenklin­ik möglich, sagt Leiterin Tanja Fehm: „Eine Chemothera­pie sollte kein Grund sein, keine Kinder zu bekommen.“

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FOTO: ANNE ORTHEN Marion und Jochen Ulrich mit ihren knapp drei Monate alten Zwillingen Leon und Marlon. Die 33-Jährige musste sich wegen einer Rheumaerkr­ankung einer Chemothera­pie unterziehe­n.

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