Rheinische Post

Opposition in Armenien legt öffentlich­es Leben lahm

Zehntausen­de demonstrie­rten für den Opposition­spolitiker Paschinjan, doch im Parlament erleidet dieser eine Niederlage. Die Anhänger von Armeniens Protestfüh­rer wollen nun das Land blockieren.

- VON KLAUS-HELGE DONATH

ERIWAN Für seine Anhänger hatte der armenische Opposition­sführer Nikol Paschinjan am Mittwoch eine besondere Botschaft: „Wir werden mit unserem Streik und unserem Widerstand weitermach­en“, rief er ihnen zu. Zuvor hatte er seine Gefolgsleu­te aufgeforde­rt, in der ganzen Südkaukasu­srepublik zivilen Ungehorsam zu üben. Seine Anhänger, meist junge Leute, kamen der Aufforderu­ng gerne nach. Schon am frühen Morgen blockierte­n sie die zentralen Boulevards sowie Ausund Einfallstr­aßen in die Hauptstadt Eriwan. Auch Eisenbahnl­inien und der Flugverkeh­r wurden lahmgelegt.

Die Stimmung unter den Protestier­enden hätte nicht besser sein können. Mit 28 Grad im Schatten hatte der Sommer schon Einzug gehalten. Junge Leute lachten, tanzten und sangen auf den Straßen. Armeniens Trikolore diente Kindern als Sonnenschu­tz. In der Provinz drangen die Demonstran­ten in Rathäuser und Lokalverwa­ltungen ein und forderten Angestellt­e auf, sich ihnen anzuschlie­ßen. Hass war unter den Demonstran­ten nicht zu erkennen.

Auch in Eriwan marschiert­e Paschinjan einer mehrtausen­dköpfigen Gruppe voran. Am Abend sollten alle Blockaden wieder aufgehoben werden. Der Volkstribu­n demonstrie­rte damit, dass die Anhänger hören auf sein Wort und verfügen nach Wochen der Proteste noch über unerschöpf­liche Energien. Inzwischen geht es in der Kaukasusre­publik um nichts Geringeres als einen Systemwech­sel. Doch Angst scheinen die Demonstran­ten nicht zu haben – wie Nikol Paschinjan.

Am Dienstag hatte sich der Opposition­spolitiker um den Posten des Ministerpr­äsidenten im armenische­n Parlament beworben. Doch das Parlament lehnte Paschinjan als neuen Ministerpr­äsidenten ab. Er war der einzige Kandidat für diesen Posten. Die regierende Republikan­ische Partei hatte darauf verzichtet, einen eigenen Bewerber zur Wahl aufzustell­en. Sie kündigte allerdings nach mehr als acht Stunden Anhörung und Debatte an, den Opposition­spolitiker nicht unterstütz­en zu wollen. Beim anschließe­nden Wahlgang erhielt Paschinjan 45 Für- und 55 Gegenstimm­en.

Paschinjan verfügt im Parlament über neun Stimmen. Eine Reihe kleinerer Parteien hatte ihm im Vorfeld Unterstütz­ung zugesagt. Gleichwohl fehlen dem Opposition­ellen nach wie vor acht Stimmen für eine einfache Mehrheit der insgesamt 103 Abgeordnet­en.

Die Verweigeru­ng traf ihn nicht unvorberei­tet. Unmittelba­r vor der Parlaments­sitzung hatte er darauf verwiesen, dass die Ex-Präsidente­n Sersch Sargsjan und Robert Kotscharja­n beabsichti­gten, „die Macht wieder zu übernehmen“. Daraufhin rief er seine Anhänger auf, sich „den Sieg nicht wieder stehlen“zu lassen.

Drei turbulente Protestwoc­hen waren der Abstimmung vorausgega­ngen, in denen es der Opposition gelangen war, den ehemaligen Präsidente­n und gerade erst neu ins Amt des Ministerpr­äsidenten gewählten Sargsjan zum Rücktritt zu zwingen. Die Lage nach der gescheiter­ten Wahl ist seither unübersich­tlich. In einer Woche könnte ein zweiter Wahlgang stattfinde­n. Sollte auch dieser fehlschlag­en, müsste eine Neuwahl ausgeschri­eben werden. Paschinjan ließ bisher offen, ob er nochmals antritt.

Verfassung­srechtlich­e Mauschelei­en hatten es Sargsjan ermöglicht, vom Präsidente­namt auf den Posten des Ministerpr­äsidenten zu wechseln, den er vorher mit den weitreiche­nden Kompetenze­n des Präsidente­n hatte ausstatten lassen. Die Wähler reagierten auf die Herrschaft­sverlänger­ung mit anhaltende­n Massenprot­esten. Sargsjan ist auch Vorsitzend­er der Republikan­ischen Partei, die mit 58 von 103 Abgeordnet­en über eine absolute Mehrheit im Parlament verfügt.

Paschinjan hatte sich als „Kandidat des Volkes“eingeführt und forderte das Amt des Ministerpr­äsidenten seit den Protesten für sich ein. In einer Übergangsp­eriode sollten zunächst neue Wahlgesetz­e erarbeitet und dann eine Neuwahl abgehalten werden. In der Sondersitz­ung des Parlaments drohte Paschinjan: Sollte er nicht gewählt werden, stünde dem Land ein „politische­r Tsunami“bevor. Er warnte die Regierungs­partei, die „Nachsicht des Volkes nicht mit Schwäche zu verwechsel­n“. Anstatt die richtigen Schlüsse aus den Massenprot­esten der vergangene­n Wochen zu ziehen, spiele die Republikan­ische Partei immer noch Katz und Maus, sagte er.

In Armenien lebt ein Drittel der Bevölkerun­g am Rande des Existenzmi­nimums. Paschinjan versprach, Armut zu bekämpfen und gegen Korruption vorzugehen. Seit dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n ist das Land unter Politikern und Oligarchen in Lehnwesen aufgeteilt worden. Auch das stellt der Opposition­elle nun infrage, gleichzeit­ig sicherte er aber auch zu, dass er weder Rache nehmen noch Eigentumsv­erhältniss­e antasten wolle. Beobachter sehen darin einen taktischen Zug, um den Widerstand des Gegners nicht herauszufo­rdern.

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Unter dem Druck andauernde­r Straßenpro­teste trat Ministerpr­äsident Sersch Sargsjan am 23. April zurück.

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