Rheinische Post

Das Haus der 20.000 Bücher

-

In jenem Chaos, erläuterte Chimen, seien viele Juden, die sich längst in den Städten eingelebt und mit dem Bankwesen vertraut gemacht hatten, zu Geld gekommen. Manche, etwa die Rothschild­s, seien Finanzfürs­ten geworden, die das Schicksal von Herrschern in der Hand gehabt hätten. Als die alte Ordnung zusammenbr­ach, hätten die Menschen Grundrecht­e gefordert und Randgruppe­n wie die Juden ein gewisses Maß an Gleichbere­chtigung errungen; zugleich habe das Rabbinat, das seit der Römerzeit unangefoch­ten gewesen sei, in zunehmende­m Maße auf die bedingungs­lose Gefolgscha­ft junger, gebildeter Juden verzichten müssen.

In derselben Vorlesung untersucht­e Chimen das außergewöh­nliche Bevölkerun­gswachstum der jüdischen Gemeinscha­ft zwischen der Mitte des 17. Jahrhunder­ts, als ungefähr ein Zehntel aller Juden weltweit ( damals eine Million Menschen) durch brutale Pogrome in der Ukraine abgeschlac­htet wurde, und dem Zweiten Weltkrieg, als man über 30 Prozent aller Juden weltweit umbrachte (zu der Zeit zwischen sechzehn und achtzehn Millionen). Er kommentier­te diverse Kultur- und Gesundheit­sberichte, die Historiker herangezog­en hatten, um zu erklären, wie es möglich war, dass die jüdische Bevölkerun­g in einem Zeitraum, als die Bevölkerun­gszahl der Nichtjuden nur um 300 Prozent zunahm, trotz der immer wiederkehr­enden gegen sie gerichtete­n mörderisch­en Gewalt um 1500 Prozent gestiegen war. Er beleuchtet­e die städtische Demografie in Russland, Polen, Litauen, Deutschlan­d, den Niederland­en, England und Frankreich; die jüdischen sexuellen Bräuche; die Hygie- nerituale, durch die Juden in dicht besiedelte­n städtische­n Regionen weniger anfällig für Epidemien wurden. Er erforschte den Aufschwung der Haskala in Deutschlan­d und den Einfluss von Moses Mendelssoh­n seit Mitte des 18. Jahrhunder­ts. Zudem beschäftig­te er sich mit den jüdischen Beiträgen zu Wissenscha­ft und Industrie, Finanzwirt­schaft und Politik. Und er vermittelt­e seinem Publikum einen Überblick über die verschiede­nen Emanzipati­onsbewegun­gen und über das plötzliche Wachstum der jüdischen Stadtbevöl­kerung, nachdem die Aufenthalt­sbeschränk­ungen aufgehoben worden waren: So erhöhte sich beispielsw­eise die Zahl der Juden in Berlin von kaum tausend zu Mendelssoh­ns Lebzeiten auf über dreihunder­ttausend hundertfün­fzig Jahre später, als die Nationalso­zialisten an die Macht kamen. Auch sprach er über die Zunahme des äußerst politisier­ten und letztlich tödlichen Antisemiti­smus, der im 20. Jahrhunder­t als Reaktion auf den mächtigen Zustrom von Juden in die großen europäisch­en Metropolen um sich gegriffen habe. Es war ein gigantisch­es Terrain. Aber er durchquert­e es furchtlos – ein Mann, der sein Fach ganz und gar beherrscht­e.

Ähnlich kundig sprach er zum Beispiel vor der Gemeinde spanischer und portugiesi­scher Juden in London über ihre sephardisc­hen Glaubensge­nossen während der Inquisitio­n. Er hielt Vorlesunge­n über den Holocaust (1977 wurde er Mitvorsitz­ender des britischen YadVashem-Komitees, das den Auftrag hatte, Unterricht­smateriali­en für Schulen und Universitä­ten über die Massaker zusammenzu­stellen, die die Nationalso­zialisten an den Juden verübt hatten); über russische Juden in den Jahrzehnte­n nach dem Zweiten Weltkrieg; über jüngere Zuwanderun­gsmuster nach Israel; über den Antisemiti­smus im zeitgenöss­ischen Russland. Er nahm an Konferenze­n in Kanada, den Vereinigte­n Staaten, Israel und Frankreich teil, hielt Vorträge in Jugoslawie­n, besuchte Archive in den Niederland­en, Dänemark und Italien.

Nach seiner Zwangspens­ionierung, die ihm keinesfall­s behagte, verbrachte er 1983 einige Monate als Gastprofes­sor am Tauber Institute der Brandeis University in Boston. Dort hielt er dreizehn Vorlesunge­n über jüdische politische Bewegungen und ihr Engagement für sozialisti­sche und zionistisc­he Ziele zwischen den 1860er Jahren und dem Zweiten Weltkrieg. Er war in einer teuren, doch leeren Wohnung untergebra­cht, die, wie er Mimi in einem seiner fast täglichen Briefe schrieb, „einem exzentrisc­hen Junggesell­en“gehört haben müsse, denn „hier gibt es nichts, keinen Kessel, kein Telefon, lauter leere Schränke. Im Moment fühle ich mich von der Welt abgeschnit­ten.“Trotzdem war er glücklich. Man riss sich um ihn, und er reiste immer wieder über den Atlantik. Die unverhohle­n antiamerik­anische Haltung seiner kommunisti­schen Jahre gehörte einer fernen Vergangenh­eit an.

1982 wurde Chimen emeritiert. Die Universitä­t veranstalt­ete eine Dinnerpart­y für ihn: Es gab Lachs, Erbsen und Salat und zum Nachtisch wahlweise Erdbeeren mit Sahne oder Apfelstrud­el. Zum Kaffee wurden Petits Fours gereicht. Nachdem Trinksprüc­he auf die Königin, auf Professor und Mrs. Abramsky sowie auf das College ausgebrach­t worden waren, erhob sich Chimen. In seiner Ansprache griff er einen Gedanken auf, den er mehrere Jahre zuvor in einem Brief an Isaiah Berlin formuliert hatte, und betonte, wie wichtig es sei, frei zu sein „von Ketten, von Inhaftieru­ng, von Versklavun­g durch andere Menschen“, denn „jegliche Form von Freiheit basiert darauf“. Und dann fuhr er fort: „Menschen leben nicht nur dadurch, Übel zu bekämpfen, sondern sie leben für eine Vielfalt lebensbeja­hender Ziele, seien sie individuel­ler oder gemeinscha­ftlicher Natur.“Wenn sie nicht die Möglichkei­t haben, eine Wahl zu treffen, erklärte er seinem Publikum, „wird ihrem Leben ein Sinn fehlen, und am Ende werden sie alles verlieren, was sie zu Menschen macht“. Chimens Ruhestand existierte nur auf dem Papier, war zurückzufü­hren auf die Richtlinie­n der Universitä­t zur obligatori­schen Pensionier­ung im Alter von fünfundsec­hzig Jahren und nicht etwa auf seinen Wunsch oder seine Absicht, die Verbindung zum Hochschull­eben zu kappen. Unmittelba­r nach seiner Emeritieru­ng handelte er einen Teilzeitle­hrauftrag an der Universitä­t aus, der sich über mehrere Jahre erstreckte. Zudem lehrte er einige Monate an der Stanford University, erstmals Anfang der achtziger Jahre und dann erneut 1990. Er flog von Stanford nach Israel und wieder zurück nach Stanford und beklagte sich dann in einem Brief an Mimi, dass ich (Sasha) das einzige Familienmi­tglied sei, das ihm seit seiner Rückkehr geschriebe­n habe. „Die übrige Familie, darunter auch du“, ließ er sie vorwurfsvo­ll wissen, „hat keine Notiz von mir genommen, als ob ich nicht – oder kaum – existierte.“

(Fortsetzun­g folgt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany