Das Haus der 20.000 Bücher
Verständlicherweise schickte Mimi ihm eine verärgerte Antwort, in der sie betonte, dass sie ihn bei seinen Touren rund um die Welt stets unterstützt habe.
Er möge bitte mit der Jammerei aufhören. Sie wusste, wie wichtig diese Reisen für Chimen waren. Jede wirkte wie ein Adrenalinschub, der seine Energie und seine Begeisterung für die akademische Welt, in der er sensationellerweise so spät im Leben gelandet war, noch steigerte.
Inzwischen hielt Chimen sich für einen Quell des Wissens um alles Jüdische, für einen Alleskönner, wenn es darum ging, das Leben der Juden im Laufe der Jahrhunderte in Europa und anderswo zu verstehen und zu interpretieren. Er kaufte und verkaufte seltene Münzen. Die älteste datierte vom Beginn des jüdischen Aufstands gegen Rom im Jahre 66 nach Christus, andere hatte König Herodes Jahrzehnte zuvor prägen lassen. Er erwarb sogar eine „Petition gegen die Juden“im Original, die 1661 in London veröffentlicht worden war. Auch fuhr er damit fort, eine Brücke zwischen der säkularen und der religiösen Welt zu schlagen. „Ich bin viel besser imstande, mich allem Möglichen zu widmen und es nachzuvollziehen“, erklärte er auf einer Konferenz, auf der er einen Zweikampf mit dem Oberrabbiner Großbritanniens um die Rolle des Säkularismus in der jüdischen Kultur ausfocht. Er reiste häufig nach Israel; korrespondierte mit berühmten Wissenschaftlern und Politikern darüber, wie Israel der Welt gegenüber auftreten solle, und nahm an Sitzungen mit den führenden Religionsvertretern Londons teil. Seit Mitte der siebziger Jahre übte er in Privatgesprächen und in seinen Briefen wiederholt Kritik an der Position der israelischen Regierung gegenüber der muslimischen Bevölkerung des Landes und seinen arabischen Nachbarn. Mit zunehmendem Alter wuchs sein Interesse an Israel immer mehr: Er war stolz auf die Leistungen des Landes, verlegen und beschämt angesichts seiner Fehler und entsetzt über den zunehmend ungeschickten Umgang der Regierung mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten, die sich gegen die Präsenz Israels wandten. Am 22. Juni 1982 schrieb er, mit Bleistift, einen sorgenvollen Brief an seinen Freund Berlin, in dem er sich zu den Maßnahmen Menachem Begins, des israelischen Ministerpräsidenten, gegen die arabische Bevölkerung des Landes und zum Krieg im Libanon äußerte. „Ich reise nach Israel, um an der Präsidentenkonferenz über zionistische Ideologie teilzunehmen“, schloss er, „und ich hoffe, einige Aspekte dieser Politik, die meiner Meinung nach sämtlichen moralischen Prinzipien widersprechen, kritisieren zu können.“
Eine nach der anderen brachen Chimens Utopien zusammen: Nachdem er gezwungen worden war, den Kommunismus aufzugeben, hatte er sein Vertrauen in eine sozialistische Form des Zionismus gesetzt. Doch als Israel sich politisch nach rechts bewegte, fürchtete er, auch diesen Lebensanker zu verlieren. Sein Eretz Israel würde, wie er allmählich einsah, nie in einer politischen Gemeinschaft verwirklicht werden. Es war wahrhaftig ein Utopia, ein Nirgendland. Seit den sechziger Jahren hatte er im Hochschulleben Trost für seine politische Ernüchterung gesucht. Die Universitätsrituale ersetzten den politischen Aktivismus, die Kultur der Wissenschaft verdrängte die erhabenen Träume von politischem Wandel.
Zu einer Zeit, als die englische Hochschulwelt noch spürbar von Traditionen eingeengt wurde, hielt er Doktorandenseminare in seinem mit Büchern vollgestopften Büro ab, forderte die Studenten auf, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen, und lud die hoffnungsvollsten in den Hillway ein (eine erstaunliche Untergrabung der akademischen Hierarchie), wo sie Historiker wie Shmuel Ettinger, Haim Ben-Sasson, James Joll, den Professor für Alte Geschichte Arnaldo Momigliano und andere trafen – „sämtliche Koryphäen der Hebräischen Universität und der noch jungen Universität in Tel Aviv“, erinnerte sich Chimens einstige Schülerin und künftige Kollegin Ada Rapoport-Albert, die aus Israel zum Studium nach London gekommen war. Zu Chanukka ermunterte Chimen seine Jünger, ihn in den Hillway zu begleiten, um Rotwein zu trinken und Mimis köstlich fettige Kartoffel-Latkes zu probieren. Für Rapoport-Albert, die fast wie ein Familienmitglied in den Hillway aufgenommen wurde, „war die Art, wie Studenten wie ich akzeptiert und integriert wurden, höchst ungewöhnlich. Es war ein Ehrfurcht einflößender Cocktail, nach dem man süchtig werden konnte.“Der Hillway diente als Brutkasten, in dem die Liebe zum Wissen gehegt und mit menschlicher Wärme gefördert wurde. Viele dieser jungen Männer und Frauen vom University College London schlossen sich dem wachsenden Hillway-Stamm an und schlugen später eine akademische Laufbahn in jüdischer Geschichte an bedeutenden Instituten auf der ganzen Welt ein. Jahrzehnte später wurde Rapoport-Albert Leiterin des Fachbereichs, den Chimen jahrelang geprägt hatte.
Der Hillway war immer brechend voll mit Studenten, Freunden und Familienangehörigen aus aller Welt. Elliott Medrich, der Sohn einer von Mimis Cousinen, reiste im Sommer 1966 aus Amerika an: „Es war ein rundum ungewöhnliches Erlebnis: Ich war eigentlich allein unterwegs. Doch dann erfuhr eine Reisegefährtin, dass ihre Übernachtungsmöglichkeit geplatzt sei, und ich fuhr mit ihr im Schlepptau zum Hillway. Miriam suchte kein Ersatzquartier für sie, sondern bestand darauf, dass sie im Haus blieb. Wir wurden für zwei Wochen gemeinsam im Wohnzimmer untergebracht. Dabei waren wir keineswegs ein Paar. Im Hillway blieb man nicht einfach nur über Nacht. Man wurde in das häusliche Leben einbezogen und kam sich vor wie ein Familienmitglied. Ich fühlte mich wirklich wie jemand, der dorthin gehörte.“Für Medrich war der Esstisch der Haupttreffpunkt im Hillway. „Die endlosen Stunden, die man am Tisch verbrachte, boten für jeden etwas. Das Ambiente, der Tagesablauf, die Fürsorge trugen dazu bei, dass sich alle wohlfühlten, gesättigt waren und aktiv an den abendlichen Zusammenkünften teilnahmen.“
Mimis kulinarische Künste warfen einen langen Schatten. Sogar auf dem Höhepunkt seiner akademischen Laufbahn widerstrebte es Chimen, in der Universität zu essen. Oder er hatte aus gutem Grund größeres Vertrauen in Mimis Kochkunst.
(Fortsetzung folgt)