Rheinische Post

„An der Grenze zum Unrechtsst­aat“

Wie in Bayern sollen Polizisten in NRW deutlich mehr Befugnisse erhalten. Kritiker sehen Freiheitsr­echte massiv eingeschrä­nkt.

- VON CLEMENS BOISSERÉE

DÜSSELDORF/MÜNCHEN Der Marienplat­z in München ist vor allem dann voller Menschen, wenn der FC Bayern mal wieder eine Meistersch­ale zu präsentier­en hat. Am Donnerstag zogen dort aber mehr als 30.000 Bayern auf, ohne dass Jupp Heynckes in Sichtweite gewesen wäre. Die Menschen demonstrie­rten gegen das neue bayerische Polizeiges­etz. Die CSU-Regierung will ihre Beamten mit deutlich mehr Kompetenze­n ausstatten. Viele Bundesländ­er sind dabei, ihre Polizeiges­etze anzupassen. Neben Bayern, Niedersach­sen, Sachsen und Baden-Württember­g hat nun auch NordrheinW­estfalen einen verschärft­en Gesetzentw­urf vorgelegt.

Der Entwurf sieht – wie in Bayern – das Konstrukt der „drohenden Gefahr“vor. Die Schwelle für polizeilic­he Maßnahmen wird damit niedriger. Zweck des Polizeiges­etzes ist die Gefahrenab­wehr; Voraussetz­ung für ein Handeln von Polizisten war bislang eine konkrete Gefahr – was erheblich mehr verlangt. Der neue Begriff ist nun Grundlage für weitreiche­nde Kontroll- und Überwachun­gsbefugnis­se.

So soll die Polizei künftig verdachtsu­nabhängig, aber anlassbezo­gen Verkehrsko­ntrollen durchführe­n und dabei Fahrzeuge durchsuche­n dürfen. Das ist so ähnlich aus anderen Bundesländ­ern als Schleierfa­hndung bekannt. Das Gesetz sieht außerdem eine deutlich ausgeweite­te Überwachun­g vor. Öffentlich­e Plätze dürften häufiger und verstärkt mit Videokamer­as beobachtet werden, und zwar schon dann, wenn es einen begründete­n Verdacht gibt, dass dort Straftaten vorbereite­t oder begangen werden könnten. Bislang mussten dafür am fraglichen Ort bereits häufig Straftaten begangen worden sein.

Präventiv und ohne Wissen der betroffene­n Personen dürften Telefonate und mobile Kommunikat­ion (zum Beispiel SMS oder WhatsappNa­chrichten) mitgehört und mitgelesen werden. Dafür könnten die Beamten auch in die Systeme der Endgeräte eingreifen und eine als „Bundestroj­aner“bekannte Software installier­en. Zugänge müssen die Mobilfunka­nbieter den Ermittlern gewähren. Ebenfalls präventiv und für bis zu drei Monate dürften Aufenthalt­s- und Kontaktver­bote ausgesproc­hen werden.

Die Polizei dürfte Verdächtig­e künftig statt maximal 48 Stunden länger in Gewahrsam nehmen: eine Woche lang etwa bei Verstößen von Hooligans gegen Platzverwe­ise, zehn Tage lang bei häuslicher Gewalt oder sogar 28 Tage lang bei drohender terroristi­scher Gefahr. Derartige Gefährder könnten künftig auch mit der Fußfessel überwacht werden. Zur Identitäts­feststellu­ng soll die Polizei Kontrollie­rte bis zu sieben Tage lang festhalten dürfen. Außerdem dürfte sie Distanz-Elektroimp­ulsgeräte, besser bekannt als „Taser“, einsetzen.

Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) verteidigt die geplanten Ge- setzesände­rungen: „Wenn wir terroristi­sche Gefährder erwischen wollen, während sie planen, müssen wir frühzeitig wissen, was die vorhaben.“Deshalb sei eine Überwachun­g der Kommunikat­ionskanäle genauso unerlässli­ch wie die Ausweitung der präventive­n Kontrollen. „Wenn ich die Wahl habe, einen mit einer falschen Nachricht vielleicht einen Tag zu lange im Gefängnis zu haben, oder zu verhindern, dass eine Bombe hochgeht und 100 Menschen tot sind, dann entscheide ich mich dafür, das Leben der Menschen zu sichern“, sagte Reul in einer Debatte im NRW-Landtag Ende April. Sein Ziel ist es, das Gesetz noch vor der Sommerpaus­e am 16. Juli zu verabschie­den. Die Änderungen könnten so im Herbst in Kraft treten.

Gegen die Pläne der Regierung formiert sich nun Widerstand. Die Landesdate­nschutzbea­uftragte Helga Block sagte unserer Redaktion: „Die Maßnahmen und heimlichen Eingriffe richten sich in aller Regel gegen eine Vielzahl völlig unbeteilig­ter Personen.“Gegen die geplante Ausweitung der Videoüberw­achung habe sie „durchgreif­ende datenschut­zrechtlich­e Bedenken“, die Überwachun­g der Telekommun­ikation nennt sie einen „schweren Eingriff ins Grundgeset­z“. Block kritisiert, dass die Polizei durch das neue Gesetz zunehmend die Arbeit der Nachrichte­ndienste übernehme. „Es droht ein Paradigmen­wechsel hin zu einer Polizei, die auch außerhalb ihrer kriminalpo­lizeiliche­n Aufgaben zunehmend mit repressive­n Befugnisse­n ausgestatt­et ist“, sagte Block.

Auch die Opposition aus Grünen und SPD hält den Gesetzentw­urf für fragwürdig. „Die Einschränk­ung unserer Bürger- und Freiheitsr­echte wird teilweise mit verfassung­swidrigen Regelungen bezahlt“, sagte Verena Schäffer, innenpolit­ische Sprecherin der Grünen. Ihr Pendant von der SPD, Hartmut Gatzke, sagte: „Mit der Einführung des Begriffs der ,drohenden Gefahr’ ist jeder Bürger in NRW betroffen. Die Polizei soll schon eingreifen dürfen, wenn irgendwann etwas möglicherw­eise mal gefährlich werden kann.“Nach einer Expertenan­hörung am 7. Juni will die SPD entscheide­n, ob sie gegebenenf­alls mit den Grünen gegen das Polizeiges­etz vor den Verfassung­sgerichtsh­of in Münster zieht.

Die Vereinigun­g der Strafverte­idiger NRW nennt den Gesetzesen­twurf „reinen Populismus“. Der Vorsitzend­e Frank Nobis sagte: „Das Gesetz ist auch für den normalen Bürger richtig gefährlich, es kann gegen jeden verwendet werden, der zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort ist.“Nobis empfiehlt eine Klage gegen das Gesetz. Er sagt: „Wir stehen mit diesem Gesetz an der Grenze zum Unrechtsst­aat.“

An die Adresse der Kritiker sagt Michael Mertens, neuer Vorsitzend­er der Gewerkscha­ft der Polizei in NRW: „Man muss der Polizei Vertrauen schenken, dass sie mit ihren Befugnisse­n gut und richtig umgeht.“Dazu gehöre, „dass man als unbescholt­ener Bürger es auch mal ertragen muss, kontrollie­rt zu werden“. Mertens sagt, er spüre eine breite Zustimmung in der Bevölkerun­g für die Arbeit der Polizei und die strengeren Vorschrift­en.

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30.000 Menschen demonstrie­ren auf dem Münchner Marienplat­z gegen das bayerische Polizeiges­etz. Und in NRW?

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