Rheinische Post

Merkels Realismus und Macrons Utopie

Die Welt ist in Unordnung, in Aachen trifft sich das politische Europa. Frankreich­s Präsident Macron erhält den Karlspreis als „Hoffnungst­räger“für ein neues Europa. Kanzlerin Merkel lobt dessen Leidenscha­ft. Doch ihre inhaltlich­e Antwort bleibt vage.

- VON MICHAEL BRÖCKER

AACHEN Es sind zwei Persönlich­keiten, die unterschie­dlicher kaum sein können, die am Donnerstag im historisch­en Krönungssa­al des Aachener Rathauses die Zukunft Europas definieren sollen. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron tritt ans Rednerpult, und es scheint, als verleihe ihm die schwere Kette mit dem goldenen Karlspreis-Orden eine besondere Gravität. „Wir müssen für etwas eintreten, das größer ist als wir selbst“, sagt er und ballt die Faust. Der Traum von der Einheit Europas müsse immer wieder neu gelebt werden. „Sonst wird er sterben. Seien wir nicht schwach, seien wir nicht ängstlich, spalten wir uns nicht“, ruft er vom Pult in den Saal, dessen Wänden die Fresken von Karl dem Großen schmücken, dem Namensgebe­r des Karlspreis­es.

Pathos, das kann der Präsident. Man spürt aber auch Leidenscha­ft und Überzeugun­g. Europa müsse sich wirklich reformiere­n, alte Tabus aufbrechen, weg von Routine und Trippelsch­ritten, mahnt der 40jährige Jungstar der europäisch­en dort die Realistin Merkel. So sieht es Macron. Im Saal sitzen die EuropaEuph­oriker. Sie wollen den Visionär. Applaus im Stehen für Macron.

Und Merkel? Schon am Vorabend der Verleihung, beim Ehrendinne­r mit Staats-und Regierungs­chefs aus ganz Europa, wurde die Frage heiß diskutiert, ob die Kanzlerin die Verleihung des europäisch­sten aller Preise für eine starke Antwort auf Macrons Reformidee­n nutzen würde. Merkels Antwort fällt nüchtern aus. Vorsichtig, aber – das muss man auch sagen – nicht ohne europäisch­en Ehrgeiz. Der „liebe Emmanuel“bekomme zu Recht diesen Preis, lobt die Kanzlerin. „Er weiß, was Europa im Innersten zusammenhä­lt.“Wenn sie mit ihm zusammenar­beite, spüre sie den „Zauber Europas“. Es wirkt, als lobe die erfahrene Politikeri­n den ungestümen jungen Mann, der die Mühen der Ebene erst noch erleben wird. Die Kanzlerin verweist auf den Geburtsort Macrons, die Stadt Amiens im Norden Frankreich­s, im Zweiten Weltkrieg heftig umkämpft. Eine Stadt, in der „eine ganze Generation in Schützengr­äben verblutete“. Europa habe Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit gebracht. Und nur die europäisch­e Einigung sei in der Lage, diese Errungensc­haften in der Zukunft zu sichern. Europa, das Friedenspr­ojekt. Da sind sich alle einig, aber wie weiter?

Merkel betont Gemeinsamk­eiten. Das gemeinsame Asylsystem, die Sicherung der Außengrenz­en, die europäisch­e Wissensreg­ion und die Stärkung der Wettbewerb­sfähigkeit. Auch bei Investitio­nen in Krisenländ­ern. Aber bei der Währungsun­ion, der Zukunft des Euro, das gibt sie zu, ist die Diskussion schwierig. Merkel spricht leiser als Macron, langsamer. Von Applaus wird sie nur unterbroch­en, wenn sie Macron zitiert. „Ja, Europa lebt von der Leidenscha­ft“, sagt sie, und es wirkt, als wolle sie sich entschuldi­gen, dass sie bei diesem Thema die falsche Ansprechpa­rtnerin ist.

Es ist eine typische Merkel-Rede. Klug, besonnen, nachvollzi­ehbar. Aber der Funke springt nicht über. Ex-Außenminis­ter Joschka Fischer mäkelt über die „nüchterne, wenig überrasche­nde Rede“. FDP-Chef Christian Lindner twittert, dass Merkel es verpasst habe, „konkrete Antworten auf die konkreten Vorschläge“zu geben. Und der deutsch-französisc­he Publizist Alfred Grosser spöttelt. Die Kanzlerin habe ihre Ideen für ein starkes Europa „geschickt verheimlic­ht“. Ex-SPD-Chef Martin Schulz, wie Merkel einst auch Karlspreis­träger, betont immerhin, dass ihr Verweis auf das Europakapi­tel im Koalitions­vertrag ein Signal der Erneuerung sei. Die deutschen Ideen seien „konstrukti­v und komplement­är“zu Macrons zu sehen.

Die Karlspreis-Verleihung 2018 ist anders als in früheren Jahren. Der Zerfall des Westens durch die einseitige US-Politik, der Siegeszug der autoritäre­n Machthaber im Nahen und Fernen Osten, machen die Einheit Europas nicht mehr nur zur guten Option, sondern zur Notwendigk­eit. Die Vertreter des politische­n Europa, die hier im Dreiländer­eck den französisc­hen Karlspreis­träger feiern, von Ratspräsid­ent Donald Tusk über den früheren EZB-Chef Jean-Claude Trichet bis zur litauische­n Präsidenti­n Dalia Grybauskai­te, sind sich beim Dinner am Vorabend der Verleihung immer wieder einig. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ist der Satz, der oft fällt.

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Kanzlerin Merkel und Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron mit Ehefrau Brigitte am Donnerstag auf dem Balkon des Aachener Rathauses.
 ??  ?? Merkel begrüßte auch den ukrainisch­en Präsidente­n Petro Poroschenk­o (l.) und König Felipe von Spanien – Macron den Ex-SPD-Chef Martin Schulz.
Merkel begrüßte auch den ukrainisch­en Präsidente­n Petro Poroschenk­o (l.) und König Felipe von Spanien – Macron den Ex-SPD-Chef Martin Schulz.
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