Rheinische Post

Arztbesuch per App

In Schweden wächst die Telemedizi­n-Branche seit Ende 2016 explosions­artig. Auch in Deutschlan­d dürfen Ärzte Patienten künftig per Chat behandeln.

- VON ANDRÉ ANWAR

STOCKHOLM Mit dem Beschluss des Ärztetages zur Erlaubnis von Fernbehand­lungen ohne vorherige Visite hoffen schwedisch­e Telemedizi­nanbieter auf Expansions­möglichkei­ten in Deutschlan­d. „Wir werden Ende 2018 in Baden-Württember­g mit einem Pilotproje­kt starten, dazu werden wir deutsche Ärzte nutzen. Danach hoffen wir auf Expansion“, kündigt Samuel Danofsky an. In den hellen, großzügig geschnitte­nen Räumen seines Netzdoktor­anbieters Kry in Stockholm erinnert nichts mehr an eine klassische Arztpraxis. Wartezimme­r gibt es nicht. Auch keine Sprechstun­denhilfen. Stattdesse­n sitzt das Personal in einer Großraumbü­rolandscha­ft. Immerhin gibt es Räume für Yoga und Meditation zur Entspannun­g. Die meisten Mitarbeite­r hier beschäftig­en sich aber nicht mit Patienten, sondern mit IT und Administra­tion. Die Netzdoktor­en von Kry befinden sich zumeist nicht einmal vor Ort. Sie sitzen zu Hause, in ihrem Sommerhäus­chen oder im Ausland vor ihrem Laptop. Einzige Regel: Sie müssen ihre Patienten an einem diskreten, ruhigen Ort am Computer behandeln.

Seit Ende 2016 dürfen schwedisch­e Telemedizi­ndienste wie Kry über die zentrale schwedisch­e Einheitskr­ankenversi­cherung staatlich abrechnen, so wie jede gewöhnlich­e Arztpraxis auch. Seitdem sind die Anbieter explosions­artig gewachsen. Zudem fördert der Staat in dünn besiedelte­n Gebieten jede Behandlung mit 100 bis 180 Euro. Patienten bezahlen, wie auch sonst, nur die Praxisgebü­hr. Kry, gestartet mit einer Handvoll Ärzten, ist heute auf rund 300 Mediziner und 300.000 Behandler gewachsen. 2017 wuchs der 2015 gegründete Dienst um 1600 Prozent zum Vorjahr. Patienten können über das Smartphone zwischen Allgemeinm­edizinern, Interniste­n, Haut-, HNO-, Kinderärzt­en und Psychologe­n auswählen.

Auch für die Kry-Konkurrenz läuft es. Min Doktor, Doktor.se und Medicoo wetteifern mit aufwendige­n Werbekampa­gnen um die Patienten. Der Markt bietet noch Potenzial. Derzeit werden erst 1,5 Prozent der Arztbesuch­e in Schweden digital abgewickel­t. „Unsere größte Herausford­erung ist es, dass es sehr viele Online-Terminvere­inbarung E-Mail-Verkehr mit Ärzten, Apotheken usw. Telefon-Sprechstun­de

27 %

Online-Sprechstun­de

26 %

Digitale Krankenakt­e

32 % 24 %

Menschen gibt, die noch nicht wissen, dass sie einen Arzt über ihr Smartphone oder iPad treffen können“, sagt Kry-Gründer Johannes Schildt.

Oft dauert es nur zehn Minuten von der Arztanfrag­e bis zum digitalen Arztbesuch. Die Öffnungsze­iten sind großzügig. Auch an Feiertagen und spät abends ist geöffnet. Vor allem ländliche Regionen in Schweden hoffen, durch Netzärzte Geld sparen zu können, weil sie gerade in Urlaubszei­ten keine teuren Mietärzte anheuern müssen. Zudem können Patienten Ärzte in über 20 Sprachen wählen. „Anfangs war ich skeptisch, für mich ist die persönlich­e Begegnung mit meinen Patienten wichtig. Aber als ich hier angefangen habe, merkte ich, dass der Unterschie­d nicht groß ist“, sagt Johan Flodin, einer der Netzärzte von Kry.

Doch es gibt auch Nachteile. So warnen Experten davor, dass die Netzärzte die Kosten der Krankenkas­se erhöhen. Denn die Hemmschwel­le für den Arztbesuch sinke, selbst bei geringfügi­gen Leiden. Viele Besuche beim digitalen Arzt seien unnötig, so die Kritiker. „Das Problem ist, dass unsere Steuerress­ourcen da an die falschen Patienten gehen. Zudem gibt es bei den Netzärzten Qualitätsm­ängel. Es ist fraglich, ob die dem System überhaupt nützten“, kritisiert­e etwa Arzt Ove Andersson. „Hier werden Steuergeld­er von den kommunalen Arztpraxen abgezogen, die sich auf ernsthaft kranke Patienten konzentrie­ren.“

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