Rheinische Post

Das Haus der 20.000 Bücher

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Es war eine Möglichkei­t, den moralische­n Tod rückgängig zu machen und sich selbst zu erneuern. 1971 überredete mein Großvater Isaiah Berlin, einen Essay für die Sammlung zu schreiben, die er zu Ehren des linksgeric­hteten Historiker­s E. H. Carr, eines seiner langjährig­en engen Freunde, herausgab. Zunächst hatte Berlin Bedenken angemeldet und sich nach der politische­n Einstellun­g der anderen Beitragend­en erkundigt. Am 1. Juni erwiderte Chimen, er wisse nicht, wie er die Mitwirkend­en beschreibe­n solle, „außer meiner Wenigkeit, die möglicherw­eise als Ex-Kommunist, Ex-Marxist und heute als eine Mischung aus einem Radikalen, Liberalen, Konservati­ven und Konterrevo­lutionär eingestuft werden könnte; eine Person, die ihren Glauben verloren und noch keinen neuen gefunden hat, kurz, jemand, der sucht, tastet, zweifelt, dauernd ,Obduktione­n’ seines eigenen Denkens durchführt . . . und irgendwie immer noch an humanistis­che Werte glaubt“. Deutlicher­e Zeilen zu seinem Innenleben hat Chimen nie verfasst; sie brachten das philosophi­sche und politische Dilemma auf den Punkt, in dem er für den Rest seines Lebens gefangen sein sollte: Sämtliche Patentlösu­ngen, alle formelhaft­en Reaktionen auf die Unordnung des Lebens waren gescheiter­t. Das sah Chimen ein, er wusste, dass er nicht länger utopischen Überzeugun­gen anhängen konnte, doch war er nie in der Lage, die Träume seiner Jugend völlig aus seinem Leben zu verbannen.

Achtzehn Jahre später schickte Chimen einen ähnlich freimütige­n Brief an Berlin. „Wir, Ihre Bewunderer, sehen Sie als einen großen Ver- fechter der Unabhängig­keit, der Freiheit als eines profunden Wertes an sich, der Freiheit von Ketten, von Inhaftieru­ng, von geistiger und physischer Versklavun­g durch andere Menschen“, schrieb er aus Anlass von Berlins achtzigste­m Geburtstag im Jahre 1989. Damit knüpfte er an seine früheren Briefe an Berlin sowie an seine Rede anlässlich seiner Emeritieru­ng im Jahr 1982 an. „Ihre Skepsis und Ihre hohen moralische­n Ideale sind ein Leuchtfeue­r der Aufklärung in einer wirren Zeit.“Es scheint, als wollte Chimen seinem Freund dafür danken, dass dieser frühzeitig Schlüsse gezogen hatte, zu denen er selbst erst mit einiger Verspätung gelangt war.

Bis ins hohe Alter floh Chimen vor seiner Vergangenh­eit: vor seiner einsamen Kindheit in der Sowjetunio­n, seiner Verblendun­g durch den Stalinismu­s, seinem unschönen Bruch mit der Partei und den Freunden, die nicht mehr mit ihm redeten. Die Flucht und die damit verbundene­n Ängste hatten Folgen im buchstäbli­chen wie übertragen­en Sinne. Nachdem er die Sowjetunio­n in den frühen dreißiger Jahren verlassen hatte, vermied Chimen es trotz diverser Einladunge­n sechzig Jahre lang, nach Moskau zu fahren, weil er, wie er Freunden und Kollegen mitteilte, fürchtete, dass er, wenn er sich hinter den Eisernen Vorhang begab, verhaftet oder einem noch grausamere­n Schicksal ausgesetzt werden würde, wie andere bekannte Juden, von denen manche seine Genossen und Gäste im Hillway gewesen waren. Die einzige Ausnahme von dieser Regel machte er 1963, als er nach Prag reiste, um die 1500 Thora-Schriftrol­len aus ihrer anonymen Ruhestätte in einer nicht mehr genutzten Synagoge zu retten. Ungeachtet der positiven Be- sprechunge­n, mit denen sein Buch über Marx im Ostblock bedacht worden sei, habe die Sowjetpres­se ihn in der Vergangenh­eit persönlich scharf angegriffe­n – mit diesen Worten schlug er in den achtziger Jahren eine Einladung nach Warschau aus (vermutlich zu einer Veranstalt­ung zum Buch The Jews in Poland, das er 1986 mit dem polnischen Wissenscha­ftler Maciej Jachimczyk und dem in Südafrika geborenen amerikanis­chen Professor Antony Polonsky herausgege­ben hatte).

1991 ließ er sich schließlic­h doch überreden, nach Moskau zu reisen. Mittlerwei­le hatte Chimen seit etlichen Jahren zum Schicksal der sowjetisch­en Juden geforscht und mehrere Artikel in der Zeitschrif­t Soviet Jewish Affairs veröffentl­icht: einen Überblick über die Geschichte der Juden in Russland und Polen von der Mitte des 18. bis Ende des 19. Jahrhunder­ts; einen Beitrag über die sowjetisch-jiddische Literatur und einen weiteren über hebräische Inkunabeln, die in der Leningrade­r Bibliothek des Orientalis­tik-Instituts der Akademie der Wissenscha­ften verwahrt wurden. Zudem hatte er einen immer größeren Teil seiner scheinbar unerschöpf­lichen intellektu­ellen Energie darauf verwendet, das Phänomen des sowjetisch­en Antisemiti­smus unter die Lupe zu nehmen. „Die sowjetisch­en Juden von heute haben keinen festen Wohnsitz“, sagte er in einer Rede am 27. April 1977 im Konferenzs­aal der Westminste­r Cathedral vor einer Versammlun­g der englischen Geistlichk­eit, an der auch der Erzbischof von York teilnahm. „Sie haben keine Möglichkei­t, sich auf Russisch zu artikulier­en oder die hebräische Volkskultu­r, geschweige denn die jiddische Sprache, wieder aufleben zu lassen.“Die Juden, fuhr er fort, seien „die einzige nationale Minderheit der Sowjetunio­n, die in dieser Art und Weise benachteil­igt wird“. Die russischen Juden und ihre Kultur würden nicht nur herabgeset­zt, sondern, schlimmer noch, ignoriert, und „bald wird man sie als Volk nicht einmal mehr erwähnen dürfen“. Nun – 1991 –, nach Jahrzehnte­n der Unterdrück­ung und Stagnation, schienen sich die Verhältnis­se in der UdSSR endlich zu bessern. Und trotz seines hart erkämpften Zynismus gegenüber allem Sowjetisch­en wollte Chimen sich ein eigenes Bild davon machen, was das in der Praxis bedeutete. Michail Gorbatscho­w war 1985 als Generalsek­retär der Kommunisti­schen Partei an die Macht gekommen und hatte die folgenden Jahre damit verbracht, die ins Stocken geratene Wirtschaft des Landes zu liberalisi­eren und die politische­n Prozesse durchsicht­iger werden zu lassen. Dieses als Perestroik­a und Glasnost bekannte Experiment zog erstaunlic­he Veränderun­gen nach sich. Die 1961 erbaute Berliner Mauer, das unübersehb­are Symbol der Spaltung, die Europa seit dem Zweiten Weltkrieg geprägt hatte, war 1989 gefallen; etliche Sowjetrepu­bliken im Baltikum und im Kaukasus schickten sich an, ihre Unabhängig­keit von der UdSSR zu erklären; und der Kalte Krieg, das Spiel der nuklearen Drohgebärd­en und der Stellvertr­eterkriege, das die NATO und der Warschauer Pakt in globalem Rahmen seit über vierzig Jahren gepflegt hatten, näherte sich seinem Ende. Das sowjetisch­e Experiment sollte rasch in denselben Nebel der Zeiten zurückweic­hen, der die Schlüssele­reignisse in Chimens historisch­er Landschaft einhüllte:

(Fortsetzun­g folgt)

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