Wolfgang Schäuble träumt zwischen den Bundestagssitzungen von einem weiteren WM-Titel.
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BERLIN Er war der dienstälteste Finanzminister, jetzt ist Wolfgang Schäuble als dienstältester Abgeordneter Bundestagspräsident. In seinem Büro fällt der Blick auf ein Gemälde des Düsseldorfer Malers Jörg Immendorff, das er auch schon in seinen Ministerbüros schätzte. Titel: „Verwegenheit stiften“. Ein Lebensmotto auch für Schäuble.
Herr Schäuble, Sie sind der Mann der „schwarzen Null“. Blutet Ihnen das Herz, wenn Sie jetzt einen Sozi auf Ihrem Platz sitzen sehen?
SCHÄUBLE Nein. Das ist der normale Lauf im Leben. Ich war der mit Abstand dienstälteste Finanzminister. Deshalb war mir schon vor der Bundestagswahl klar, dass acht Jahre in diesem Amt genug sind. Außerdem sehe ich nicht, dass Herr Scholz es wesentlich anders macht als ich. Es war schließlich eine sehr erfolgreiche Finanzpolitik.
Hat der Bundestag den richtigen Umgang mit der AfD gefunden?
SCHÄUBLE Die AfD ist gewählt, sie ist Teil des Bundestags. Ihre Abgeordneten haben dieselben Rechte und Pflichten wie alle anderen auch. Sie haben andere Auffassungen, aber das ist der Sinn der Demokratie. Es wird jede Woche neue Situationen geben. Diese Woche musste ich Ausführungen der AfD-Fraktionsvorsitzenden rügen. Das hat ihr nicht gefallen. So ist das eben.
Wer schrill ist, wird besser wahrgenommen. Was ist die beste Antwort auf lautstarke Provokationen: Ignorieren wie die Kanzlerin oder Draufhauen wie Herr Özdemir?
SCHÄUBLE Das muss jeder selbst entscheiden. Aber die Kanzlerin ist ein gutes Beispiel. Sie ist Regierungschefin geworden und erfolgreicher als die meisten ihrer Kollegen, ohne laut und provokant zu sein. Es zeigt sich, dass man am Ende auch mit Seriosität ganz schön weit kommen kann.
Rechnen Sie damit, dass Sie bald einen Stellvertreter von der AfD haben?
SCHÄUBLE Das weiß ich nicht. Jede Fraktion kann für das Präsidium einen Vorschlag machen. Aber dem muss die Mehrheit der Abgeordneten in geheimer Wahl zustimmen. Daran hat es bisher gefehlt. Solange es keinen neuen Vorschlag gibt, gibt es auch keinen weiteren Vizepräsidenten.
Dann bleibt es bei diesem Provisorium?
SCHÄUBLE Das ist kein Provisorium. Das Präsidium ist mit einem Präsidenten und fünf Vizepräsidenten hinreichend arbeitsfähig. Es ist alles geregelt.
Wird die AfD auf Dauer Teil des Parteienspektrums bleiben?
SCHÄUBLE Was ist schon auf Dauer? Als Parlamentspräsident werde ich mich nicht dazu äußern, wen ich mir im nächsten Bundestag wünsche.
Stellen Sie sich denn als CDU-Politiker dauerhaft auf die AfD ein?
SCHÄUBLE Ich finde, die CDU muss alles dafür tun, dass sie ihre Aufgabe, als große Volkspartei zur Mitte hin zu integrieren, möglichst erfolgreich erfüllt.
Schafft es der Bundestag, die aktuelle Zahl von 709 Abgeordneten wieder an die Vorgabe von 598 heranzubringen?
SCHÄUBLE Die Materie ist irrsinnig kompliziert. Deswegen habe ich sehr früh alle Vorsitzenden aller Fraktionen eingeladen, einen Weg zu finden, auch wenn das der Quadratur des Kreises ähnelt. Ich habe selbst die Leitung der Beratungen übernommen. Wir haben Vertraulichkeit vereinbart, um die Sache nicht noch schwieriger zu machen.
Sind Sie guten Mutes?
SCHÄUBLE Ich weiß schon, wie schwierig und unwahrscheinlich das ist. Aber es kann doch nicht wahr sein, dass der Bundestag nicht dazu in der Lage ist, ein Wahlrecht so zu gestalten, dass man vor der Wahl weiß, wie groß der Bundestag hin- terher ist. Wenn ich mir die aktuellen Umfragewerte so anschaue, kann der nächste Bundestag noch sehr viel größer werden, als er jetzt schon ist, wenn wir nichts tun. Ich weiß nicht, ob wir eine absolute Obergrenze hinbekommen, aber wir sollten zu einer besseren Berechenbarkeit kommen können.
Wäre es einfacher, wenn die Abgeordneten nicht über ihr eigenes Schicksal entscheiden?
SCHÄUBLE Ich schlage vor, für die Änderung des Wahlrechts das Jahr 2025 ins Auge zu fassen. Das kann die Entscheidung heute erleichtern, weil sich noch keiner ausrechnen kann, was das für jeden Einzelnen dann für Folgen hat. Ich hoffe, dass die Einsicht zunimmt, für dieses Problem eine Lösung zu finden.
Die Welt sieht jeden Morgen gebannt den Twitter-Meldungen aus dem Weißen Haus entgegen. Wie wirkt das auf die Demokratie?
SCHÄUBLE Die Demokratie lebt von der Kommunikation. Mit der ungeheuren Beschleunigung der Kommunikationstechnik wird sich die Demokratie verändern. Das ist eine ganz große Herausforderung. Ein Patentrezept hat keiner. Der Vorteil freiheitlicher Gesellschaftsformen ist, dass sie aus Fehlern lernen können. Ich bin Optimist: Auch inmitten von sozialen Netzwerken, Fake News und Filterblasen wird es uns gelingen, die Demokratie leistungsfähig zu halten. Aber die Formen der repräsentativen Demokratie werden sich verändern.
Twittern Sie selbst?
SCHÄUBLE Nein, ich bin 75 und damit nicht im digitalen Zeitalter geboren.
Trump ist 71.
SCHÄUBLE Ich bin so bescheiden, dass ich mir den amerikanischen Präsidenten nicht zum Vorbild nehme.
Wie erklären Sie sich die Sehnsucht nach einfachen populistischen Antworten?
SCHÄUBLE Die Welt ist kompliziert, die kann ich nicht einfacher machen. Aber je komplizierter etwas erscheint und je verunsicherter die Menschen sind, desto leichter geben sie der Versuchung nach, einfachen Lösungen zu folgen. Umso wichtiger ist die Aufgabe der Politik, die komplizierten Dinge so zu erklären, dass ein normaler Mensch das verstehen kann. In der Gefahr wachsen immer auch die Abwehrkräfte. Schauen Sie sich die Debatte um Facebook an, die sich innerhalb von Wochen gedreht hat. Selbst Mark Zuckerberg musste die Bedrohungen anerkennen. Solange die offene Gesellschaft ihre Möglichkeiten nutzt, Fehler zu korrigieren, ist mir nicht bange.
Welchen Rat würden Sie mit ihren Erfahrungen dem jungen Abgeordneten Schäuble von 1972 geben?
SCHÄUBLE Offen zu bleiben. Rechne damit, dass die Welt sich immer anders entwickelt, als du glaubst. Schauen wir etwa auf die Koalitionsverträge: Es hat mich zunehmend amüsiert, wie detailgenau die wurden. Meistens sind die mühsam errungenen Verabredungen nach sechs Monaten von der Wirklichkeit überholt. Was haben wir 2013 für in- tensive Verhandlungen gehabt! Und dann wurde die Krim besetzt, und alle unsere Planungen waren über den Haufen geworfen.
Was hat Sie am meisten bewegt?
SCHÄUBLE Das war das Jahr, in dem wir die Einheit verhandelt haben. Aber auch das hatte eine andere Seite: Neun Tage nach Inkrafttreten der Wiedervereinigung lag ich auf der Intensivstation und bin seitdem querschnittsgelähmt. So kann das Leben sein.
Wovon träumen Sie?
SCHÄUBLE Nach meinem Eindruck träumt man eher in der Vergangenheit als in der Zukunft, wenn man älter wird. Jedenfalls träume ich wenig von Politik. Ich träume davon, dass wir noch mal Fußballweltmeister werden.
Wie schwer ist es, mit der Politik aufzuhören?
SCHÄUBLE Wenn man etwas mit solcher Leidenschaft macht, dann geht man davon nicht leicht weg. Andererseits muss man lernen, dass alles seine Zeit hat. Ich bin jedenfalls sehr zufrieden damit, wie ich aus dem Ministeramt rausgekommen bin. Noch bin ich in der Politik. Aber ich habe nicht bedauert, bei den Koalitionsverhandlungen nicht mehr dabei zu sein. Nicht eine Sekunde.
Denken Sie denn ans Aufhören?
SCHÄUBLE Ich weiß, dass das nicht für immer ist. Aber das ist nicht so schlimm.