Lang, aber nicht langweilig
Im Tanzhaus feierte das Choreografen-Duo Billinger und Schulz Premiere mit einer vierstündigen Performance.
Im Tanzhaus NRW hatte man vorgewarnt: dreimal 75 Minuten Performance, direkt hintereinander, ohne Pause. Das Ganze im Großen Saal, aber mit nur 30 Zuschauern. Und die sollten sich nicht auf bequemen Sitzplätzen niederlassen dürfen, sondern irgendwo nahe am Geschehen. Mehr noch: Im Laufe des Abends wurde ein richtiges Holzhaus von den Tänzern vollständig demontiert, um später von diesen wieder komplett aufgebaut zu werden.
Verantwortlich für diesen ungewöhnlichen Abend zeichnet das Düsseldorfer Choreografen-Duo Verena Billinger und Sebastian Schulz. Dem aktuell im Tanzhaus vorgestellten letzten Teil ihrer langfristig angelegten Trilogie „Unlikely creatures“gaben sie den Titel „us hearing voices“. Hier erlebt man verschiedene Zukunftswelten, letztlich Dystopien einer kommenden Gesellschaft. Zunächst das Jahr 2300 mit einer von der Klimakatastrophe heimgesuchten Erde: Vor der Hitze und den Überflutungen anderer Kontinente sind die Menschen in den Norden geflüchtet. Vor allem nach Grönland, das jetzt etliche Millionen Bewohner zählt. Die neue grüne Idylle mit herrlicher Blumenpracht, rauschenden Wasserfällen und Vogelgezwitscher scheint ein echtes Paradies zu sein. Von ihrem zentralen Bühnenpodest blicken die Zuschauer und ein Kameramann auf spielende Kinder und fleißige Erwachsene. Letztere treiben Sport oder bauen weiter an ihrer schönen neuen Welt. Elf Tänzer und Performer haben den Saal in Beschlag genommen. Alles läuft in geordneten Bahnen, bis sich das Bild ändert. Donnergrollen übertönt plötzlich das rauschende Wasser. Auf den ringsum platzierten Bildschirmen zerfleischen Raubtiere ihre Beute und, kaum fassbar, Kinder steinigen Kinder. In Billingers und Schulz’ Vision der Zukunft beherrschen Verhaltens-Atavismen den Menschen und holen ihn immer wieder ein.
Der zweite Teil präsentiert den Menschen als Opfer. Irgendetwas ist schiefgegangen bei der Reise eines Raumschiffs. „Ich bin der letzte Überlebende“, heißt es auf Englisch. In ihren „Survival“-Hüllen zucken und kriechen die Tänzer über die Saalfläche. Raumschiffbrüchige, gibt es das? Nicht auf Prosperos Zauberinsel wie bei Shakespeare, sondern auf einen von Aliens beherrschten Planeten hat es die „Human Beings“verschlagen. Jetzt zeigt sich die Überlegenheit anderer, sehr fremder Intelligenz-Wesen. Und man hört von deren suggestiver Wirkung, sogar von einer Verführung durch Tentakel. Die Texte für den Abend stammen von verschie- denen Autoren: Reiner Klingholz, Brian Aldiss, Arthur C. Clarke und Octavia Butler. Allerdings kommt bei dem manchmal nervig wirkenden Narrativ, das für den gesamten Abend eine Handlungsstruktur vermitteln soll, längst nicht jedes Wort beim Zuschauer an.
Gegen Ende des zweiten Teils haben sich die Zuschauer räumlich emanzipiert. Nicht mehr nur unbequem sitzend, auch stehend verfol- gen sie nun das Geschehen. Dieses wirkt keineswegs langatmig oder ermüdend. „Wir betreiben eine Weiterführung der Performancekunst mit choreografischen Mitteln“, sagt Sebastian Schulz, „komplexer arrangiert und mit weniger Glauben an Unmittelbarkeit und Echtheit.“Für ihre künstlerische Arbeit werden Billinger & Schulz, die am Gießener Institut für angewandte Theaterwissenschaft studiert haben, in- zwischen vom Land NRW und den Städten Düsseldorf und Frankfurt gefördert.
Trotz der Länge des Abends: Den letzten Teil von „us hearing voices“sollte man nicht versäumen. Auf Grundlage der „Wahren Geschichten“von Lukian beherrschen identitätsverwirrte Androiden das Geschehen. Nach einer Ouvertüre mit Howard Carpendales „Hello again“durchleben sie Existenzen mit Gewaltpotenzial. Das wieder erbaute Holzhaus und dessen Vorfläche sind jetzt, umgeben von schnell errichteten Zäunen, zum Exerzierplatz für Quälereien geworden.
Schade nur, dass man ohne die Möglichkeit zum Applaus aus dem Saal des Tanzhauses entlassen wurde.