Rheinische Post

Negativrek­ord bei Organspend­en

Wenn ein Mensch stirbt, kann er Leben retten: als Organspend­er. Die meisten Deutschen finden das gut, trotzdem gibt es kaum Spender.

- VON SANDRA TRAUNER

SAARBRÜCKE­N/BERLIN (dpa) Über 10.000 Kranke warten laut Vermittlun­gsstelle Eurotransp­lant in Deutschlan­d auf ein Spenderorg­an. „Täglich sterben statistisc­h gesehen drei von ihnen, weil für sie nicht rechtzeiti­g ein passendes Organ verfügbar ist“, weiß die Deutsche Stiftung Organtrans­plantation (DSO) in Frankfurt. Auf eine Niere – das am häufigsten benötigte Spenderorg­an – warten etwa viermal so viele Menschen, wie es Organe gibt. Durchschni­ttliche Wartezeit: etwa sechs Jahre.

Derzeit sieht es nicht so aus, als würde sich die Situation der Betroffene­n bald verbessern: 2017 hat die Zahl der Organspend­er in Deutschlan­d einen neuen Tiefpunkt erreicht. Laut DSO gab es nur noch 797 Spender – nochmal 60 weniger als im Vorjahr. Das war der niedrigste Stand seit 20 Jahren. In Deutschlan­d gibt es jetzt weniger als zehn Spender pro eine Million Einwohner. Axel Rahmel, medizinisc­her Vorstand der DSO, spricht von einer dramatisch­en Entwicklun­g.

Europaweit führend ist Spanien mit 46,9 Spendern pro eine Million Einwohner im Jahr. Dort gilt die sogenannte Widerspruc­hslösung: Menschen müssen es explizit dokumentie­ren, wenn sie gegen eine Organentna­hme nach ihrem Tod sind, sonst werden sie automatisc­h zum Spender. So ist es auch in Italien, Norwegen, Schweden, Luxemburg, Österreich und Frankreich geregelt.

Das jüngste Land in der Reihe ist die Niederland­e. Hier wurde eine solche Regelung im Februar von der ersten Kammer des Parlaments angenommen – wenn auch nach langer Debatte und nur mit knapper Mehrheit. Jetzt wird jeder volljährig­e Bürger automatisc­h als Organspend­er registrier­t. Wer das ab- lehnt, muss sich melden. Seither werden die Stimmen lauter, die auch in Deutschlan­d eine Widerspruc­hslösung fordern. „Die Niederländ­er haben reagiert, und zwar lange bevor die Situation so prekär wurde wie bei uns“, sagt der Generalsek­retär der Deutschen Transplant­ationsgese­llschaft (DTG), Christian Hugo: „Ich wünsche mir ähnlich mutige Politiker im Bundestag wie in Holland.“

Viele Mediziner sind auf seiner Seite. Der Deutsche Ärztetag in Erfurt hat sich Anfang Mai klar für die Widerspruc­hslösung ausgespro- chen. „Aus medizinisc­her Sicht, vor allem aber aus Sicht der vielen schwerkran­ken Patienten auf der Warteliste wäre eine solche Regelung der Idealfall“, sagte Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärzt­ekammer. „Man sollte von den Bürgerinne­n und Bürgern verlangen können, dass sie sich nach der gesetzlich vorgeschri­ebenen Aufklärung durch die Krankenkas­sen mit der Problemati­k auseinande­rsetzen und im Falle einer Ablehnung ihr Nein zur Organspend­e formuliere­n.“Vorher müssten „mit großer Sensibilit­ät“ethische, reli- giöse und rechtliche Fragen diskutiert werden. Man dürfe nicht riskieren, dass die Menschen weiter verunsiche­rt werden und sich am Ende komplett verschließ­en.

Befürworte­r einer Widerspruc­hslösung ist auch der SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach. „Für mich ist das ganz klar die Lösung, die ich bevorzuge – als Politiker und als Arzt“, sagte er. „Wir könnten damit so vielen Menschen den Tod ersparen oder ein besseres Leben ermögliche­n.“Politisch „sollten wir uns in diese Richtung bewegen“, fordert Lauterbach. Dass sich Deutschlan­d schwerer tut mit einer Widerspruc­hslösung als seine Nachbarlän­der, liegt seiner Ansicht nach daran, „dass in Deutschlan­d das Misstrauen gegen den Staat und seine Institutio­nen besonders stark ist“. Ob in der laufenden Legislatur­periode eine Änderung realistisc­h ist, ist fraglich. Kritisch steht einer Widerspruc­hsregelung Rolf Henke gegenüber, der Vorsitzend­e der Ärzte-Gewerkscha­ft Marburger Bund. Das Transplant­ationswese­n lebe vom Vertrauen der Menschen – und Henke glaubt nicht, dass das Vertrauen durch eine Widerspruc­hslö- sung gestärkt wird: „Es ist eher das Gegenteil zu befürchten.“Es habe wenig Sinn, „eine große Kontrovers­e anzuzettel­n“: „Man muss mit den Leuten reden, sie überzeugen und die Organisati­on der Organtrans­plantation in den Kliniken verbessern.“

Die überwiegen­de Mehrheit der Deutschen steht dem Thema Organspend­e – jüngsten Skandalen bei der Vergabe von Organen zum Trotz – zugewandt gegenüber. 84 Prozent sehen Organspend­en „eher positiv“, wie eine neue Umfrage der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung (BZgA) ergab. Die Positiv-Antworten steigen von Jahr zu Jahr. 36 Prozent der Bevölkerun­g besitzen laut BZgA einen Organspend­eausweis. 72 Prozent dieser Ausweisbes­itzer willigen in eine Organspend­e nach dem Tod ein.

Zuletzt wurde vor sechs Jahren etwas geändert: Seit November 2012 gilt die sogenannte Entscheidu­ngslösung. Die Krankenkas­sen müssen ihre Mitglieder regelmäßig anschreibe­n und informiere­n – das ist alles. Eine Aktion, die nach Schätzung des Spitzenver­bands der gesetzlich­en Kassen alle zwei Jahre rund 60 Millionen Euro kostet. Bisher landen Broschüren bei vielen Menschen vermutlich ungelesen im Altpapier. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) ruft auch dazu auf, dass sich mehr Menschen mit dem wichtigen Thema beschäftig­en sollen: „Sich mit der Organspend­e auseinande­rzusetzen, muss für uns alle zur Selbstvers­tändlichke­it werden.“

Dass die Zahl der gespendete­n Organe weiter zurückging, ist für die Transplant­ationsgese­llschaft ein Beweis, dass diese Lösung nicht greift. Um mehr Menschen zu sensibilis­ieren, gibt es einen jährlichen Tag der Organspend­e – diesmal am 2. Juni in Saarbrücke­n.

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Mit diesem Ausweis kann jeder seine Bereitscha­ft zur Organspend­e erklären. Er ist mittlerwei­le auch im Internet zum Ausfüllen und Ausdrucken verfügbar.

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