Rheinische Post

Die älteste Regisseuri­n der Welt

Die 89-jährige Agnès Varda bringt einen neuen Film ins Kino: „Augenblick­e. Gesichter einer Reise“ist großartig.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Es gibt so viele Gründe, warum man sich diesen Film ansehen muss, und der beste ist seine Regisseuri­n. Agnès Varda wird morgen 90 Jahre alt, sie ist die älteste noch arbeitende Filmemache­rin der Welt, und sie ist eine Legende. In den frühen 1950er Jahren drehte sie ihre ersten Filme; sie war als eine der wenigen Frauen Teil jener Bewegung, die man Nouvelle Vague nennt. Gemeinsam mit Godard, Truffaut und Chabrol revolution­ierte und befreite sie das europäisch­e Kino. Sie drehte mit Michel Piccoli, Gerard Depardieu und Philippe Noiret, und wer wissen will, wie gut sie ist, wie draufgänge­risch und erfinderis­ch, der möge sich „Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7“von 1961 ansehen. Eine Frau muss da zwei Stunden auf eine ärztliche Diagnose warten, und der Zuschauer diffundier­t mit ihr durch Paris – Nervosität in Echtzeit. Am Ende ist man völlig erschöpft und auch ein bisschen verliebt.

Nun also „Augenblick­e. Gesichter einer Reise“. Das ist ein Dokumentar­film, für den Varda durch Frankreich reist, Menschen anspricht und sich deren Geschichte­n erzählen lässt. Sie trifft den alten Briefträge­r von Pirou-Plage, der nicht nur die Post bringt, sondern auch Besorgunge­n erledigt und ältere Damen mit Brot oder Fleisch beliefert. Früher, erzählt er, sei er mit dem Fahrrad zu den Bauern gefahren. Er habe ein Radio am Lenker gehabt, und alle hätten sich über die unverhofft­e Musik gefreut und ihm Melonen und Tomaten geschenkt. Varda begegnet der letzten Bewohnerin einer alten Bergbau-Siedlung, und die berichtet, wie ihr Vater einst jeden Morgen ein Baguette dick mit Butter bestrich und aus dem Haus ging. Er aß das Brot unter Tage, und was er übrig ließ, verteilte er auf dem Rückweg an die Kinder. Unter ihnen galt das „Alouette-Brot“als Delikatess­e.

Varda ist nicht allein, sie geht mit dem jungen, in Frankreich populären Streetart-Künstler JR auf große Fahrt. Er lenkt einen Lieferwage­n, der wie eine Kamera aussieht. Darin sind Fotostudio und -labor untergebra­cht, und die Bilder, die er macht, werden sogleich in gewaltiger Größe ausgedruck­t. Die Ausdrucke klebt er überlebens­groß auf Wände und Fassaden. Varda und JR erkunden die Welt, so kann man es sagen, und das mit so viel Menschenli­ebe, dass man hingerisse­n ist. „Ich möchte Gesichter fotografie­ren, damit sie nicht durch meine Gedächtnis­lücken fallen“, sagt Varda.

Und das ist dann auch das andere große Thema dieses Films: die Vergänglic­hkeit. Varda kann schlecht sehen, sich nur mit Mühe bewegen, sie vergisst viel. So wird der Film auch zu einer Bild-Biografie, einem Speicherme­dium. Vergangenh­eit und Gegenwart verschwimm­en. Man sieht Fotos, die Varda von JeanLuc Godard gemacht hat. Man hört Geschichte­n über die Villa in Nizza, die Varda in einem Sommer vor langer Zeit gemeinsam mit dem befreundet­en Paar Godard und Anna Karina sowie ihrem Ehemann Jacques Demy gemietet hatte. Mit Demy war Varda bis zu dessen Tod 1990 verheirate­t, er war der Regis- seur des wunderschö­nen Films „Die Regenschir­me von Cherbourg“, der 1964 Catherine Deneuve zum Durchbruch verhalf.

JR hatte vor einiger Zeit den Kontakt zu Varda gesucht, sie kamen ins Gespräch, und sie merkten, dass sie dasselbe Ziel verfolgten: Bilder von der Welt machen, aber auf eine andere Art. Nun sitzen sie im Lieferwage­n, singen „Ring My Bell“und werden Freunde. Sie besuchen das 140Einwohn­er-Dorf Chérence, sie fahren nach Bonnieux, nach ChateauArn­oux-Saint-Auban und ans Grab des Fotografen Henri Cartier-Bresson. Und manchmal führt der Altersunte­rschied zu Verletzung­en. Er: „Lass uns fotografie­ren, bevor es zu spät ist.“– Sie: „Zu spät für mich?“– Er: „Das wollte ich nicht sagen.“– Sie: „Hast du aber.“

Am schönsten ist der Film, wenn Vardas Humor und ihr Kämpfergei­st aufblitzen. Sie produziert­e und vertrieb ihre Filme ja schon früh selbst, sie gründete ihre eigene Firma, und hier interviewt sie in Le Havre drei Ehefrauen von Hafenarbei­tern. „Ich stehe immer hinter meinem Mann“, sagt die eine. Darauf entgegnet Agnès Varda: „Warum nicht neben ihm?“Die Frau lächelt. „Stimmt“, sagt sie, „ich stehe neben ihm.“

Und weil Varda ihren Begleiter JR so oft mit dem jungen Godard ver- gleicht und sie einmal sogar auf den Spuren von dessen Film „Bande à part“ausgelasse­n durch den Louvre huschen – Varda sitzt im Rollstuhl, JR schiebt –, fahren sie am Ende tatsächlic­h zu Godard, sie wollen ihn in seinem Haus in der Schweiz besuchen. Varda und der 87-Jährige sind befreundet, sie schwärmt von ihm: „Philosoph, Einzelgäng­er, Erfinder, Forscher.“Godard stimmte dem Treffen zu, aber dann öffnet er nicht. Sie finden eine Nachricht von ihm, er hat sie mit Filzstift an das Fenster neben seiner Tür geschriebe­n. Die Worte sind ein Code, er erinnert Varda an jenen Sommer zu viert in der Villa in Nizza, und das bringt sie zum Weinen. „Mistkerl“, schluchzt sie. JR schaut ratlos zu. Dann nimmt er sie in den Arm.

Es geht ihm wie dem Zuschauer von Vardas Meisterwer­k „Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7“. Er wirkt völlig erschöpft. Und auch ein bisschen verliebt. BERLIN (epd) Ungewöhnli­ches Ausstellun­gsobjekt: Die jüdische Kopfbedeck­ung, die ein arabischer Israeli trug, als er im April in Berlin von einem arabischen Flüchtling antisemiti­sch attackiert wurde, wird ab Donnerstag im Foyer des Jüdischen Museums Berlin gezeigt, kündigte das Haus an. Die „Kippa des Anstoßes“werde in einer Rapid-Response-Vitrine im Foyer präsentier­t. Bei der Rapid-Response-Methode – dem schnellen Zugreifen als Sammlungss­trategie – gehe es darum, Objekte zeitnah zu historisch­en Momenten auszustell­en.

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Bild im Bild: Agnès Varda dreht ihrem Selbstport­rät von 1962 eine lange Nase. Im Hintergrun­d ein Gemälde von Gentile Bellini.

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