Rheinische Post

Sie liebt Brahms

Das Philadelph­ia Orchestra unter Yannick Nézet-Séguin in der Tonhalle.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Orchesterk­ultur und Formel-1-Rennen haben erstaunlic­h viel gemeinsam. Es geht um edlen Lärm. Es geht um Schnittigk­eit, ästhetisch­en Zauber und perfektes Funktionie­ren von Systemen. Es geht auch um den einen Piloten, der die Karre steuert. Und es geht um die Bereifung: Will man lieber schnell fahren oder mit Grip, also mit Bodenhaftu­ng, etwa bei Regen und Schnee?

Das Philadelph­ia Orchestra tut beides. Es lud uns jetzt in der Düsseldorf­er Tonhalle ein, sozusagen beim Großen Preis der USA dabei zu sein. Das Team gehört nicht grundlos zu den „Big Five“, den fünf großen US-amerikanis­chen Spitzenorc­hestern. Wenn die tiefen Streicher durchs Finale von Robert Schumanns 4. Sinfonie d-Moll rasen und doch nie die Spur verlieren; wenn das schwere Blech in Strauss‘ „Don Juan“auf der Zielgerade­n noch einmal die Motoren röhren lässt und doch keine Sekunde derb wirkt; wenn die Holzbläser federleich­t mit der Eleganz eines speziellen orientalis­chen Teppichs durch die Musik fliegen – dann hält man den Atem an. Aber nie seine Ohren zu.

Yannick Nézet-Séguin ist der Chefdirige­nt, der sein wunderbare­s Fahrzeug mit größtem Vergnügen steuert. Er hockt nicht verkrampft auf der Pole Position und wartet, dass die Ampel umschaltet. Er gibt selbst das Tempo vor, greift fortwähren­d in die Streckenfü­hrung ein, er reißt auch schon mal das Steuer rum – aber gegen die Partitur der Rennleitun­g ist das nie. Schumanns Vierte bleibt ein poetisches Gebilde, das einen hinreißend­en Schwung entfaltet, wenn das Werk so enthusiast­isch, windschnit­tig, ja feuertrunk­en gespielt wird wie vom Philadelph­ia Orchestra. „Don Juan“entwirft das vor Farben grelle Pandämoniu­m eines Lüstlings, der am Ende wie eine Jammerfigu­r zurückblei­bt, ausgebleic­ht und abgezehrt.

Vor der Pause erlebten wir eine geradezu unfassbar schöne Darbietung von Johannes Brahms’ Klavierkon­zert Nr. 1. Die hinreißend­e Hélène Grimaud spielte es mit makelloser Technik, und sie verband Lyrik mit Pranke. Es blieb ein edles, ernstes Werk, dem aber nicht die Vehemenz abgefräst wurde. Der langsame Satz war an Intensität schier nicht zu überbieten, er erzählte sich wie eine dieser ruhigen Sommernach­tsgeschich­ten, bei der alle nur nicken, weil sie den Ausgang kennen, aber hingerisse­n dem Erzähler lauschen, weil er uns den Eindruck gibt, als erlebten wir alles das erste Mal.

Nach allen drei Rennen gab es ohrenbetäu­benden Beifall, als wollte das Publikum den Helden etwas von der Wucht des Erlebens zurückgebe­n. Dennoch gab es keine Zugabe. Luxus ist bereits eine.

 ??  ?? Hélène Grimaud.
Hélène Grimaud.

Newspapers in German

Newspapers from Germany