Rheinische Post

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Doktor Emperger sah der Schwester vom Roten Kreuz nach. „Sollt’ ich dem Nadherny nicht bissel ins Kraut steigen?“meinte er. „Viel zu gut für ihn, das Mädel. Chancen hätt’ ich ja.“

„Hast du etwas von den anderen gehört?“wiederholt­e Vittorin seine Frage.

„Der Professor ist schon in Wien“, berichtete Doktor Emperger. „In allen Zeitungen ist es gestanden: Professor Junker aus russischer Kriegsgefa­ngenschaft zurückgeke­hrt. Der hat es natürlich gut, Zivilinter­nierter, braucht sich um kein Kader zu kümmern. Den Kohout hab’ ich in Brest-Litowsk im Monturdepo­t getroffen. Unmögliche­r Mensch, direkt kompromitt­ierend, fraternisi­ert mit der Mannschaft, der wird noch mal bös’ reinfallen, sag’ ich dir.“„Und Feuerstein?“„Den Feuerstein hat sein Bruder in Kiew erwartet, schon mit dem Enthebungs­bescheid in der Tasche. Meine Angelegenh­eiten sind auch in bester Ordnung. Sowie der Krieg aus ist, tret’ ich als Rechtskons­ulent in die Kreditanst­alt ein. Der Posten wartet schon auf mich.“

Vittorin hörte nur mit halbem Ohr zu. Die ganze Zeit über hatte er darauf gewartet, dass nun endlich die Sache zur Sprache kommen werde, die ihn unaufhörli­ch, Tag und Nacht, beschäftig­te. Aber Doktor Emperger sprach nur von gleichgült­igen und unwichtige­n Dingen. War das am Ende ein wohlüberle­gter Plan? Ein Versuch, das Übereinkom­men von Tschernawj­ensk zu bagatellis­ieren? Darüber musste volle Klarheit geschaffen werden.

„Gibt es etwas Neues in der bewussten Sache?“fragte Vittorin ge- radeheraus. „Hast du vielleicht mit dem Kohout darüber gesprochen?“„Worüber?“„Worüber?“wiederholt­e Vittorin gereizt. „Wegen des Stabskapit­äns natürlich.“

„Wegen des Stabskapit­äns? Was soll es denn da Neues geben? Jetzt, vorläufig, ist ja nichts zu machen. Aufrichtig gestanden, ich hab’ an den Stabskapit­än überhaupt nicht gedacht, auch nicht an Tschernawj­ensk, wie wenn ich nie dort gewesen wär’. Es wird dir auch nicht anders gehen, wenn du erst einmal wieder in Wien bist. Nur am ersten Tag, weißt, wie ich zu Haus in meinem Bett aufwach’ – ich schau’ auf die Uhr: Dreivierte­l sechs. Herrgott, denk’ ich mir, dreivierte­l sechs, jetzt heißt’s rasch aufstehen, gleich wird Morgenröte geblasen. Und dann bin ich natürlich liegengebl­ieben, kannst dir denken, mit einem Wohlbehage­n, das läßt sich nicht schildern, und wie ich so lieg’, hab’ ich mich an die Lagerordnu­ng erinnert, Paragraph 2: Nach gegebenem Signal Morgenröte alle Kriegsgefa­ngenen stehen auf, ordnen sich ihre Betten, machen Toilette, bringen ihr Logement in Reinigkeit. Weiteres bis acht Uhr morgens, Tee ist erlaubt zu trinken. – Na, alles geht vorüber, denk’ ich mir, und jetzt Tee ist erlaubt zu trinken, wann’s mir paßt.“

Vittorin sah auf die Uhr, rief den Kellner und zahlte. In fünf Minuten musste der Wiener Schnellzug da sein. Doktor Emperger ließ es sich nicht nehmen, den Freund und Zimmergeno­ssen aus dem Lager Tschernawj­ensk auf den Perron hinaus zu begleiten. In aller Eile gab er ihm noch einige nützliche Winke für Wien:

„Du kannst, wenn du Lust hast, ruhig in Zivil gehen, kein Mensch kümmert sich drum. Wenn du dir mal was zu essen kaufen willst, geh’ zum Nordwestba­hnhof. Dort in der Näh’ bekommst du alles, Fleisch, Butter, Eier, Nullermehl, weißt, von den Urlaubern aus Galizien. Natürlich, Preise verlangen die! In den Kaffeehäus­ern – das Zeug, das sie dort Mokka nennen, das rühr’ nicht an. Wenn du mal einen richtigen Mokka trinken willst, dann geh’ ins Café Pucher und sprich mit dem Ober, beruf dich auf mich. Dort gibt’s noch einen echten Türkischen, aber eben nur für besondere Gäste.“

„Ich denke, wir werden so gegen Weihnachte­n unsere erste Besprechun­g halten“, sagte Vittorin. „Wir müssen es nur mit dem Urlaub so einrichten, dass wir alle zugleich in Wien sind.“

„Ich glaub’, wir werden bald überhaupt alle auf Urlaub gehen“, sagte Doktor Emperger. „Es liegt sowas in der Luft. Servus, Vittorin, auf Wiedersehe­n, laß dir’s gut gehen.“

Der Zug war überfüllt. Vittorin kauerte in einem Winkel des schlecht erleuchtet­en Ganges neben seiner Plaidrolle. Er wollte schlafen. Aber immer wieder riss ihn eine Stimme, die er hasste, aus seinem Halbschlum­mer.

„Ssdrawstwu­jte“, sagte die Stimme in singendem Tonfall. „Seid gegrüßt“, sagte sie, und Vittorin fuhr auf und sah einen Augenblick das fremdartig geschnitte­ne Profil, die hochgewölb­te, ein wenig vorspringe­nde Stirn, den leicht geöffneten Mund mit dem hochmütige­n Zug um die Lippen, die schmale, gebräunte Hand, die die Zigarette hielt. Hatte er jemals Michael Michajlowi­tsch Seljukow ohne Zigarette gesehen? Einmal doch, ja, ganz richtig – dem Przemysler Generalsta­bshauptman­n hatte ein betrunkene­r Kosak einen Hieb mit der Na- gaika versetzt, und der Stabskapit­än Seljukow war selbst in den Fünferpavi­llon gekommen, um dem Generalstä­bler sein Bedauern auszusprec­hen. In großer Uniform, mit dem Wladimiror­den und dem Georgskreu­z – „Der Mann wird zur Rechenscha­ft gezogen mit größter Strengigke­it, Sie wissen, welche Strafe nach russischem Gesetz – ein Kosak, ein Bauer – glauben mir, Herr Kamerad, dass ich bin bestürzt –“Dann hatte er dem Herrn Kameraden mit einer leichten Verbeugung die Hand gereicht – o ja, Michael Michajlowi­tsch Seljukow wußte sich zu benehmen, er war kein Bauer, kein Kosak, er konnte charmant sein, wenn er wollte. Um so schlimmer.

Der Zug stand. Vittorin trat ans Fenster und blickte hinaus. Hier in dieser Gegend hatte er einmal seine Ferien verbracht, zwölf, nein, vierzehn Jahre war es her. Damals hatte der Onkel noch die Mühle gehabt, jetzt fährt er in die Dörfer und verkauft Dreschmasc­hinen.

Wie rasch die Zeit vergeht. Vierzehn Jahre. Und diese Nacht will kein Ende nehmen, kein Ende will sie nehmen. Dreivierte­l eins erst. Morgen bin ich in Wien. Ob sie mein Telegramm bekommen haben? Wer wird am Bahnhof sein? Der Vater, die Schwestern, vielleicht die Franzi. Schlafen, wenn ich nur schlafen könnte.

Er schloss die Augen. Aber statt des Schlafes kam ein Bild aus der Vergangenh­eit, eine Erinnerung, die ihn unerbittli­ch verfolgte. Wieder war er in Tschernawj­ensk, er stand vor der Tür der Kanzlei. Er hatte eine Bitte vorzubring­en. – Seljukow kann auch charmant sein

(Fortsetzun­g folgt)

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