Merkel: Werden Solingen nie vergessen
Mit einer Absage an Rassismus und Rechtsextremismus haben gestern Politiker gemeinsam mit der Familie der Opfer des fremdenfeindlichen Brandanschlags von Solingen vor 25 Jahren gedacht.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat zum Schutz von Menschen aufgerufen, die in Deutschland Ziel von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus sind. Anlass war eine Gedenkstunde für die Opfer des Brandanschlags von Solingen vor 25 Jahren in der Düsseldorfer Staatskanzlei, an der auch das betroffene türkische Ehepaar Genç teilnahm. In Solingen hatten in der Nacht zum 29. Mai 1993 vier Männer das Haus der Familie angezündet. Zwei Töchter, zwei Enkel und eine Nichte von Mevlüde Genç kamen um.
Merkel betonte in ihrer Rede, man werde derlei Taten wie in Solingen nicht vergessen. An Mevlüde Genç gerichtet sagte sie: „Es gibt nichts, was über Ihren Verlust hinwegtrösten könnte.“Die Bundeskanzlerin erinnerte zudem an die fremdenfeindlichen Ausschreitungen, die dem Anschlag vor 25 Jahren vorangegangen waren. Es sei unverzichtbar, dass die deutschen Sicherheitsbehörden alles unternähmen, was in ihrer Macht stehe, um rechtsex- tremistische Verbrechen zu verhindern und aufzuklären. „Wir wissen, und dieses Wissen schmerzt, dass auch unsere Behörden zum Teil gravierende Fehler und Versäumnisse machen.“Dafür könne die Bundesregierung nur um Verzeihung bitten. Noch heute würden Menschen in Deutschland wegen ihres Aussehens oder ihrer Hautfarbe angefeindet. Damit dürfe man sich nicht abfinden. „Solche Gewalttaten sind eine Schande für unser Land“, sagte Merkel. Deshalb habe man die Mittel zur Bekämpfung rechtsradikaler Verbrechen verdreifacht.
Mit Anspannung war an diesem Tag auch die Rede des türkischen Außenministers Mevlüt Çavusoglu erwartet worden. Mevlüde Genç hatte Çavusoglu persönlich darum gebeten, zum Jahrestag zu sprechen. Mehrere Politiker hatten die Befürchtung geäußert, Çavusoglu könnte die Veranstaltung als Wahlkampfauftritt nutzen. Am 24. Juni findet in der Türkei sowohl die Präsidenten- als auch die Parlamentswahl statt. Doch Çavusoglu fokussierte sich auf das Gedenken. Es sei ihm eine Ehre, zu diesem Anlass zu sprechen. Der fremdenfeindliche Anschlag in Solingen sei nicht der erste gewesen. „Und er wird auch nicht der letzte sein.“Man müsse alles dafür tun, um der Plage des Rassismus etwas entgegenzusetzen. Die Türkei sei bereit, „jede erdenkliche Unterstützung zu leisten“. Wie Merkel zollte auch Çavusoglu Genç für ihre Haltung Respekt: „Sie ist für uns alle ein Vorbild.“
Die anschließende Gedenkfeier in Solingen musste wegen eines Un- wetters abgebrochen werden. Für Verwirrung sorgten Meldungen türkischer Medien, Merkel habe den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan nach den Wahlen in der Türkei nach Deutschland eingeladen. Aus deutschen Regierungskreisen hieß es hingegen, es komme allein dem Bundespräsidenten zu, eine solche Einladung auszusprechen. Die Kanzlerin habe mit Çavusoglu lediglich über mögliche künftige Besuche gesprochen.
Flüchtlinge und Asylbewerber aus der Türkei haben derzeit deutlich größere Chancen, in Deutschland Schutz zu finden. Lag die Anerkennungsquote im Jahr 2013 noch bei 9,5 Prozent, so betrug sie im vergangenen Jahr 28,1 Prozent und ist in diesem Jahr auf über 40 Prozent gestiegen. Das geht aus unserer Redaktion vorliegenden Statistiken des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge hervor. In den ersten vier Monaten 2018 lag die Türkei unter den Hauptherkunftsländern auf Platz sieben. 2675 Türken stellten Asylanträge, im gesamten vergangenen Jahr waren es 8483.
Fünf junge Frauen im Alter zwischen vier und 27 Jahren sterben in den Flammen ihres Hauses. An dem Ort, der ihnen Heimat geworden war. Entfacht hatte das Feuer ein rechtsradikaler Mob. Mörder mit rassistischen Motiven. Auch 25 Jahre danach steht Solingen für eines der schwersten und brutalsten Verbrechen von Neonazis im Nachkriegs-Deutschland. Nur ein halbes Jahr zuvor waren in Mölln drei Türkinnen bei einem Brandanschlag ums Leben gekommen. Ebenfalls waren Rechtsradikale die Täter. Solingen und Mölln sind Chiffren für Fremdenhass geworden, auch wenn es diesen Städten natürlich nicht gerecht wird.
Wir wissen, dass die menschenverachtende Haltung von damals auch heute von Flensburg bis Passau und von Aachen bis Rostock in der Gesellschaft verwurzelt ist. Fremdenhass gibt es im kleinen Kaliber. Er äußert sich abfällig über Dunkelhäutige, Türken, Syrer. Er kann brutal sein, wie die Übergriffe auf Flüchtlingsheime zeigen. Und er zeigt sich als systematischer Terror von rechts wie bei den NSU-Morden. Die schmerzliche Wahrheit ist: Deutschland, das den millionenfachen Massenmord im NaziReich aus einer abartigen völkischen Ideologie heraus begründete, ist Ausländerfeindlichkeit nie ganz losgeworden. Gedenktage wie der gestrige mahnen uns, dass der Kampf gegen den Hass auf Fremde ein langwieriger ist. Aber er muss geführt werden. Der „Aufstand der Anständigen“, den Gerhard Schröder im Jahr 2000 nach einem Anschlag auf die Düsseldorfer Synagoge einforderte, geht weiter. Und sei es als Widerspruch gegen rassistische Kommentare in sozialen Netzwerken. Treffend, was NRW-Regierungschef Armin Laschet sagte: „Es ist mehr als Solingen – es geht uns alle an.“
In der aufgeregten Debatte um Zuwanderung aus muslimischen Kulturkreisen muss die aufgeklärte deutsche Gesellschaft aber beides schaffen. Den Fremdenhass aus den Köpfen holen, mit Leidenschaft und viel Bildung von früh an, aber trotzdem über die Unfreiheiten in fremden Kulturen sprechen, das Kritikfähige am Multikulturalismus herausarbeiten. Vielfalt ist kein Wert an sich, wenn eine falsch verstandene Rücksicht auf kulturelle Eigenarten die Grund- und Menschenrechte in unserer Demokratie überdeckt. Kritik am politischen Islam geht auch ohne rassistische Motive. Was das friedfertige Miteinander von Kulturen ausmachen könnte, hat die unbeugsame Mevlüde Genç gestern eindrucksvoll bewiesen. Die 70-Jährige hat am Morgen des 29. Mai 1993 zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren. Doch sie lebt weiter in Deutschland. Ohne Hass. „Wir alle sind Kinder eines Gottes“, hat sie gestern gesagt. „Was wir brauchen, ist Liebe im Herzen. Ansonsten ist nichts von Wert.“Wenn wir alle ein bisschen mehr wie Mevlüde Genç wären, müsste man solche Texte wie diesen wohl nicht mehr schreiben.