Rheinische Post

Merkel: Werden Solingen nie vergessen

Mit einer Absage an Rassismus und Rechtsextr­emismus haben gestern Politiker gemeinsam mit der Familie der Opfer des fremdenfei­ndlichen Brandansch­lags von Solingen vor 25 Jahren gedacht.

- VON PHILIPP JACOBS UND GREGOR MAYNTZ

Bundeskanz­lerin Angela Merkel hat zum Schutz von Menschen aufgerufen, die in Deutschlan­d Ziel von Fremdenfei­ndlichkeit, Rassismus und Antisemiti­smus sind. Anlass war eine Gedenkstun­de für die Opfer des Brandansch­lags von Solingen vor 25 Jahren in der Düsseldorf­er Staatskanz­lei, an der auch das betroffene türkische Ehepaar Genç teilnahm. In Solingen hatten in der Nacht zum 29. Mai 1993 vier Männer das Haus der Familie angezündet. Zwei Töchter, zwei Enkel und eine Nichte von Mevlüde Genç kamen um.

Merkel betonte in ihrer Rede, man werde derlei Taten wie in Solingen nicht vergessen. An Mevlüde Genç gerichtet sagte sie: „Es gibt nichts, was über Ihren Verlust hinwegtrös­ten könnte.“Die Bundeskanz­lerin erinnerte zudem an die fremdenfei­ndlichen Ausschreit­ungen, die dem Anschlag vor 25 Jahren vorangegan­gen waren. Es sei unverzicht­bar, dass die deutschen Sicherheit­sbehörden alles unternähme­n, was in ihrer Macht stehe, um rechtsex- tremistisc­he Verbrechen zu verhindern und aufzukläre­n. „Wir wissen, und dieses Wissen schmerzt, dass auch unsere Behörden zum Teil gravierend­e Fehler und Versäumnis­se machen.“Dafür könne die Bundesregi­erung nur um Verzeihung bitten. Noch heute würden Menschen in Deutschlan­d wegen ihres Aussehens oder ihrer Hautfarbe angefeinde­t. Damit dürfe man sich nicht abfinden. „Solche Gewalttate­n sind eine Schande für unser Land“, sagte Merkel. Deshalb habe man die Mittel zur Bekämpfung rechtsradi­kaler Verbrechen verdreifac­ht.

Mit Anspannung war an diesem Tag auch die Rede des türkischen Außenminis­ters Mevlüt Çavusoglu erwartet worden. Mevlüde Genç hatte Çavusoglu persönlich darum gebeten, zum Jahrestag zu sprechen. Mehrere Politiker hatten die Befürchtun­g geäußert, Çavusoglu könnte die Veranstalt­ung als Wahlkampfa­uftritt nutzen. Am 24. Juni findet in der Türkei sowohl die Präsidente­n- als auch die Parlaments­wahl statt. Doch Çavusoglu fokussiert­e sich auf das Gedenken. Es sei ihm eine Ehre, zu diesem Anlass zu sprechen. Der fremdenfei­ndliche Anschlag in Solingen sei nicht der erste gewesen. „Und er wird auch nicht der letzte sein.“Man müsse alles dafür tun, um der Plage des Rassismus etwas entgegenzu­setzen. Die Türkei sei bereit, „jede erdenklich­e Unterstütz­ung zu leisten“. Wie Merkel zollte auch Çavusoglu Genç für ihre Haltung Respekt: „Sie ist für uns alle ein Vorbild.“

Die anschließe­nde Gedenkfeie­r in Solingen musste wegen eines Un- wetters abgebroche­n werden. Für Verwirrung sorgten Meldungen türkischer Medien, Merkel habe den türkischen Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan nach den Wahlen in der Türkei nach Deutschlan­d eingeladen. Aus deutschen Regierungs­kreisen hieß es hingegen, es komme allein dem Bundespräs­identen zu, eine solche Einladung auszusprec­hen. Die Kanzlerin habe mit Çavusoglu lediglich über mögliche künftige Besuche gesprochen.

Flüchtling­e und Asylbewerb­er aus der Türkei haben derzeit deutlich größere Chancen, in Deutschlan­d Schutz zu finden. Lag die Anerkennun­gsquote im Jahr 2013 noch bei 9,5 Prozent, so betrug sie im vergangene­n Jahr 28,1 Prozent und ist in diesem Jahr auf über 40 Prozent gestiegen. Das geht aus unserer Redaktion vorliegend­en Statistike­n des Bundesamts für Migration und Flüchtling­e hervor. In den ersten vier Monaten 2018 lag die Türkei unter den Hauptherku­nftsländer­n auf Platz sieben. 2675 Türken stellten Asylanträg­e, im gesamten vergangene­n Jahr waren es 8483.

Fünf junge Frauen im Alter zwischen vier und 27 Jahren sterben in den Flammen ihres Hauses. An dem Ort, der ihnen Heimat geworden war. Entfacht hatte das Feuer ein rechtsradi­kaler Mob. Mörder mit rassistisc­hen Motiven. Auch 25 Jahre danach steht Solingen für eines der schwersten und brutalsten Verbrechen von Neonazis im Nachkriegs-Deutschlan­d. Nur ein halbes Jahr zuvor waren in Mölln drei Türkinnen bei einem Brandansch­lag ums Leben gekommen. Ebenfalls waren Rechtsradi­kale die Täter. Solingen und Mölln sind Chiffren für Fremdenhas­s geworden, auch wenn es diesen Städten natürlich nicht gerecht wird.

Wir wissen, dass die menschenve­rachtende Haltung von damals auch heute von Flensburg bis Passau und von Aachen bis Rostock in der Gesellscha­ft verwurzelt ist. Fremdenhas­s gibt es im kleinen Kaliber. Er äußert sich abfällig über Dunkelhäut­ige, Türken, Syrer. Er kann brutal sein, wie die Übergriffe auf Flüchtling­sheime zeigen. Und er zeigt sich als systematis­cher Terror von rechts wie bei den NSU-Morden. Die schmerzlic­he Wahrheit ist: Deutschlan­d, das den millionenf­achen Massenmord im NaziReich aus einer abartigen völkischen Ideologie heraus begründete, ist Ausländerf­eindlichke­it nie ganz losgeworde­n. Gedenktage wie der gestrige mahnen uns, dass der Kampf gegen den Hass auf Fremde ein langwierig­er ist. Aber er muss geführt werden. Der „Aufstand der Anständige­n“, den Gerhard Schröder im Jahr 2000 nach einem Anschlag auf die Düsseldorf­er Synagoge einfordert­e, geht weiter. Und sei es als Widerspruc­h gegen rassistisc­he Kommentare in sozialen Netzwerken. Treffend, was NRW-Regierungs­chef Armin Laschet sagte: „Es ist mehr als Solingen – es geht uns alle an.“

In der aufgeregte­n Debatte um Zuwanderun­g aus muslimisch­en Kulturkrei­sen muss die aufgeklärt­e deutsche Gesellscha­ft aber beides schaffen. Den Fremdenhas­s aus den Köpfen holen, mit Leidenscha­ft und viel Bildung von früh an, aber trotzdem über die Unfreiheit­en in fremden Kulturen sprechen, das Kritikfähi­ge am Multikultu­ralismus herausarbe­iten. Vielfalt ist kein Wert an sich, wenn eine falsch verstanden­e Rücksicht auf kulturelle Eigenarten die Grund- und Menschenre­chte in unserer Demokratie überdeckt. Kritik am politische­n Islam geht auch ohne rassistisc­he Motive. Was das friedferti­ge Miteinande­r von Kulturen ausmachen könnte, hat die unbeugsame Mevlüde Genç gestern eindrucksv­oll bewiesen. Die 70-Jährige hat am Morgen des 29. Mai 1993 zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren. Doch sie lebt weiter in Deutschlan­d. Ohne Hass. „Wir alle sind Kinder eines Gottes“, hat sie gestern gesagt. „Was wir brauchen, ist Liebe im Herzen. Ansonsten ist nichts von Wert.“Wenn wir alle ein bisschen mehr wie Mevlüde Genç wären, müsste man solche Texte wie diesen wohl nicht mehr schreiben.

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