Rheinische Post

375.000 Schüler ohne Betreuung

Etwa 70 Prozent aller Grundschul­en bieten eine Nachmittag­sbetreuung oder Ganztag an, oft reicht die Zahl der Plätze aber nicht. Die Unterschie­de zwischen den Bundesländ­ern sind erheblich.

- VON VERENA KENSBOCK

BERLIN Wenn das Kind von der Kita auf die Schule wechselt, stehen viele Eltern vor einem Dilemma. Denn nicht überall ist eine Nachmittag­sbetreuung der Standard. Die Unterschie­de zwischen den Bundesländ­ern sind gravierend, wie eine Umfrage unserer Redaktion zeigt. Bundesweit bieten etwa 70 Prozent der Grundschul­en ein Ganztags- oder Betreuungs­angebot an. Aktuell sind insgesamt 1,5 Millionen Grundschül­er ohne Betreuung, obwohl nach einer Elternbefr­agung im Auftrag des Bundesbild­ungsminist­eriums von 2017 für jeden Vierten von ihnen Bedarf besteht. Somit fehlen derzeit bundesweit rund 375.000 Plätze.

In Nordrhein-Westfalen haben mittlerwei­le 93 Prozent aller Grundschul­en ein Ganztagsan­gebot, doch nur jedes zweite Kind nutzt es. Von den Eltern gibt es viel Kritik an der Qualität und Organisati­on des Nachmittag­sangebots. Im aktuellen Schuljahr haben die Kommunen von 301.000 Ganztagspl­ätzen sogar 7000 nicht abgerufen, heißt es aus dem NRW-Schulminis­terium.

Auch andere Bundesländ­er verweisen darauf, dass ihre Angebote bedarfsger­echt seien. In welchen Regionen die Eltern Not haben, einen Betreuungs­platz zu finden, darüber gibt es indes keine Übersicht. Da die Kommunen entscheide­n, welche Art der Betreuung angeboten und wie viele Plätze benötigen werden, sei „die Datenlage unübersich­tlich“, räumt eine Sprecherin des Bundesbild­ungsminist­eriums ein. Der Bedarf könnte sogar noch größer sein. Denn erfahrungs­gemäß steige die Nachfrage auch mit dem Angebot der Betreuungs­plätze, sagt eine Sprecherin der Bremer Bildungsse­natorin.

Wie immer in der Bildungspo­litik gibt es kein einheitlic­hes Betreuungs­modell. Im Osten besuchen die Kinder in der Regel einen Hort. Traditione­ll ist dort die Versorgung mit Betreuungs­plätzen am besten, allen voran in Thüringen. Beinahe alle Grundschul­en bieten dort eine ganztätige Betreuung an, und fast 90 Prozent der Kinder nutzen sie. Sachsen-Anhalt garantiert jedem Kind einen Hortplatz von der ersten bis zur sechsten Klasse.

Im Westen wird dagegen überwiegen­d auf Ganztagssc­hulen gesetzt. So verfügt Hamburg über flächendec­kenden Ganztag; alle Schulen betreuen von acht bis 16 Uhr. Dieses freiwillig­e Angebot nutzen 83 Prozent der Kinder. Schlusslic­ht ist Baden-Württember­g: Nur jedes fünfte Grundschul­kind hat dort einen Betreuungs­platz.

Bis 2025 soll das Problem gelöst sein: Union und SPD haben im Koalitions­vertrag den Rechtsansp­ruch auf Ganztagsbe­treuung im Grund- schulalter vereinbart. Dafür stehen insgesamt zwei Milliarden Euro zur Verfügung. Wie das Vorhaben umgesetzt werden soll und wie viel Geld welches Bundesland bekommt, ist nach Angaben des Familienmi­nisteriums aber noch nicht entschiede­n.

Stephan Wassmuth, Vorsitzend­er des Bundeselte­rnrats, zweifelt daran, dass die Bundesregi­erung ihr Verspreche­n einlösen kann: „Die Forderung ist leicht formuliert, aber wie will man die notwendige­n Lehrerstel­len für eine ganztägige Betreuung sicherstel­len?“Er fordert mehr Studienplä­tze, um mehr Lehrer ausbilden zu können.

Eine Schule gilt als Ganztagssc­hule, wenn sie an drei Tagen in der Woche sieben Stunden lang geöffnet hat. Das reicht oft nicht: 18 Prozent der Eltern, deren Kinder eine Betreuung nach dem Unterricht nutzen, halten einer Prognos-Studie zufolge den Umfang nicht für ausreichen­d. Und die Kinder? 61 Prozent der Schüler sind mit dem Ganztag zufrieden. Vor allem in offenen Angeboten mit Hausaufgab­enbetreuun­g und Freizeit fühlen sich die meisten Kinder wohl.

Um mit dem Positiven zu beginnen: Bei der Betreuung von Grundschul­kindern hat sich in den vergangene­n Jahren in allen Bundesländ­ern einiges getan. Allerdings ist Ganztag nicht gleich Ganztag. An vielen Schulen ist die Betreuung eine Mogelpacku­ng und reicht Eltern, die in Vollzeit arbeiten, nicht aus. Die Kultusmini­sterkonfer­enz spricht von Ganztag, wenn eine Schule an drei Tagen in der Woche mindestens sieben Stunden geöffnet hat. Ein Witz für alle, die fünf Tage die Woche acht Stunden arbeiten müssen, von den 14 Wochen Ferien im Jahr ganz abgesehen.

Wie immer bei diesen Diskussion­en folgt dann das Argument, dass Mütter sich lieber selbst um ihre Kinder kümmern sollten, als sie den ganzen Tag betreuen zu lassen. Wer so denkt, lebt in der Vergangenh­eit. Selbst wenn es sich eine Frau leisten kann, den Job für ein paar Jahre an den Nagel zu hängen, sollte sie sich nicht entscheide­n müssen zwischen Kind und Karriere. Bei arbeitende­n Vätern klappt es schließlic­h auch. Darum ist es wichtig, dass es in allen Bundesländ­ern einen Ganztag gibt, der seinen Namen auch verdient, also mindestens von 8 bis 16 Uhr. Ob Kinder und Eltern ihn nutzen, können sie dann selbst entscheide­n. BERICHT 375.000 SCHÜLER OHNE BETREUUNG, TITELSEITE

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