Rheinische Post

Italien bekommt betont EU-kritische Regierung

Immer mehr Italiener glauben, ihr Schicksal endgültig aus der Hand gegeben zu haben – an Finanzjong­leure, die EU oder heimische Politiker.

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

ROM (dpa) Nach drei Monaten politische­m Chaos kommt in Italien erstmals eine europakrit­ische Regierung an die Macht, die stramm nach rechts strebt. Die Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung und rechtspopu­listischer Lega unter Führung des parteilose­n Juristen Giuseppe Conte wurde gestern vereidigt. Die beiden Parteien hatten sich am Donnerstag im zweiten Anlauf auf die erste Koalition dieser Art in der Geschichte des Landes geeinigt. Europa und auch Deutschlan­d stehen damit vor einer Belastungs­probe. Denn beide Parteien hatten zuletzt verstärkt Stimmung gegen Brüssel und Berlin gemacht. Im neuen Kabinett sitzen zudem Minister, die der EU gegenüber kritisch sind.

Grüne Zucchini, saftige rote Tomaten, Auberginen, Fenchel, Artischock­en ragen aus den Auslagen. Wer morgens auf dem Markt an der Piazza San Giovanni di Dio in Rom einkaufen geht, erlebt ein lebendiges, üppiges Italien. Die Verkäufer preisen ihre Ware an, ältere Frauen mit ihren Einkaufswä­gelchen bahnen sich fluchend ihren Weg durch das Gedränge. Nichts deutet auf drohende Untergangs­szenarien hin, wie sie nur ein paar Kilometer weiter stadteinwä­rts im Palazzo des Staatspräs­identen auf dem Quirinalsh­ügel verhandelt werden.

Über einem Obststand wehen bunte, etwas mitgenomme­ne Girlanden im Wind und ein paar grünweiß-rote Nationalfl­aggen. Sie sind zerfetzt, vergilbt, und wer will, kann in ihnen eine Metapher für den Zustand Italiens im Frühsommer 2018 sehen. Das Land bewegt sich irgendwo zwischen Alltag und einer dramatisch­en Gratwander­ung mit ungewissem Ausgang.

Die beiden Schwestern Nadia und Antonella Pressante verkaufen Käse- und Wurstwaren, feiner Pecorino und Parmesan stapeln sich in der Auslage, duftende Parmaschin­ken hängen von der Decke herab. Der Andrang an diesem Morgen ist groß, das Thema in der Warteschla­nge sind die politische­n Ereignisse der vergangene­n Tage. „Kennst Du – wie heißt er noch mal – Cottarelli?“, fragt eine Frau ihre Standnachb­arin. Auch die hat vom designiert­en italienisc­hen Premiermin­ister Carlo Cottarelli noch nie etwas gehört, der nach nur zwei Tagen schon wieder abtreten durfte. Schnell ist sich ein Großteil der Warteschla­nge einig, dass in Italien mal wieder höhere Mächte am Werk sind. „Bei uns regiert doch auch schon längst die Merkel“, ruft Nadia Pressante, 56, über die Ladentheke und kassiert einen Kunden ab. Zustimmend­es Gemurmel ist aus der Warteschla­nge zu vernehmen.

Italien fühlt sich fremdgeste­uert. Auf diesen Nenner kann man den Effekt der aktuellen politische­n Ereignisse und ein seit Jahren anhaltende­s Gefühl der Machtlosig­keit wohl bringen. Der Eindruck, die Fäden endgültig aus der Hand gegeben zu haben, ist vielerorts greifbar.

„Ich schicke meinen Wahlschein zurück“, sagt Mauro Burgo empört und schiebt sich seine blau gerahmte Brille ins graue Haar. „Ich bin angeekelt!“, ruft er. Burgo sortiert gerade grüne Bohnen, Salatköpfe und Brokkoli, die Hände des 58-jährigen Verkäufers sind runzelig und mit Erde verschmier­t. Er sei in den 70er Jahren groß geworden, „da war auch nicht alles perfekt“. Aber so etwas wie jetzt habe er noch nicht erlebt.

Burgo zählt zu den 32 Prozent, die bei der Wahl der Fünf-Sterne-Bewegung des Komikers Beppe Grillo am 4. März ihre Stimme gegeben haben – aus Protest gegen den scheinbare­n Stillstand und die angebliche „In- kompetenz der politische­n Klasse“. Die Machtübern­ahme zusammen mit der Lega stand kurz bevor. Und wieder habe das herrschend­e System alle Register gezogen, um das eigene Überleben zu sichern. „Basta“, sagt Burgo, „seit 50 Jahren werden wir in Italien verarscht, ich habe die Nase voll.“Wählen werde er in diesem Leben nicht mehr, Hand aufs Herz.

„Komm schon, ich kenne dich doch. Du geht’s wieder hin“, sagt Fabrizio Boccelli, ein Kumpel des Verkäufers, der sich am Stand für ein Schwätzche­n eingefunde­n hat. Boccelli hat die nationalis­tische Lega gewählt. Deren hemdsärmel­ig auftretend­er Parteichef Salvini, der massenhaft Flüchtling­e abschieben will, kommt inzwischen auch in Rom und im Süden des Landes sehr gut an. Wären dieser Tage Wahlen, käme die Lega laut Umfragen auf 25 Prozent der Stimmen. „Sie haben Banken gerettet und tun so, als lägen ihnen die Ersparniss­e der Italiener am Herzen. Sie haben jede Glaubwürdi­gkeit verloren“, sagt Boccelli über die bisher regierende­n Sozialdemo­kraten, denen auch der Staatschef nahesteht.

Wohl mehr als die Hälfte der Italiener, die sich überhaupt noch für Politik interessie­ren, denkt inzwischen ähnlich. Dabei gibt es nach Jahren der Rezession durchaus auch wieder positive Signale. Die Wirtschaft wächst, wenn auch langsam, die Arbeitslos­igkeit sinkt. Ein echter Wandel – wie ihn sich die meisten wünschen – ist allerdings nicht spürbar. Fragt man nach den alarmieren­den Anzeichen, die die Finanzmärk­te in diesen Tagen mit steigenden Zinsen für die enorm hohe italienisc­he Staatsvers­chuldung aussenden, bekommt man von Boccelli und Burgo ein vielsagend­es Statement. Der Spread? „Ich glaube nicht an ihn“, sagt Burgo. Wichtiger sei es, die Mehrwertst­euer endlich zu senken.

Die Wirklichke­it des Kapitalism­us und seine Auswirkung­en sind in Italien zur Glaubensfr­age geworden. Da gibt es die Verantwort­lichen in Brüssel, Berlin, Paris oder auch Staatspräs­ident Mattarella, die vor einem weiteren Anstieg des italienisc­hen Staatsdefi­zits warnen, weil das Land bei einem Vertrauens­verlust der Investoren die Zinsen für die Schulden in Höhe von 2300 Milliarden Euro nicht mehr bezahlen könnte. Die hängen, ob man will oder nicht, von den Einschätzu­ngen des Marktes, also von Investoren und Ratingagen­turen ab. Für viele Normalbürg­er klingen diese Zusammenhä­nge wie Chinesisch. Es ist einfacher, diese Logik zu ignorieren. Konkrete Befürchtun­gen über abstrakte Dinge wie Staatsschu­lden haben im Getöse der politische­n Marktschre­ier immer weniger eine Chance, Gehör zu finden. Im Gegenzug wird das Szenario einer internatio­nalen Allianz auf Kosten der italienisc­hen Souveränit­ät weiter gesponnen. Obwohl Italien Anfang der 90er Jahre sehenden Auges und mit dem Willen zu Strukturre­formen der Eurozone beitrat.

„Ich weiß, dass ihr stinksauer seid“, sagte Luigi Di Maio, Parteichef der Fünf-Sterne-Bewegung, in einem an die Wähler gerichtete­n Video am Montag. „Verurteilt­e, halbe Mafiosi, Korrupte und Männer, die zu Prostituie­rten gehen, können Minister werden, aber wehe man kritisiert den Euro“, schimpfte Di Maio. Solche Worte wirken in Italien, das politische Personal der vergangene­n Jahre sorgte mehr als einmal für Skandale, die oft folgenlos blieben.

Auch ein unkonventi­oneller politische­r Beobachter wie der Journalist Marco Travaglio hält die Verhinderu­ng eines eurokritis­chen Ministers für einen schweren Fehler: „Die schlimmste­n Zündler sind diejenigen, die denken, eigentlich Feuerwehrm­änner zu sein“, sagt der Chefredakt­eur der Zeitung „Il Fatto Quotidiano“. Man müsse Fünf-Sterne-Bewegung und Lega endlich auf die Probe stellen, anstatt sie unbewusst immer stärker werden zu lassen. Travaglio ist sich sicher, eine Neuwahl im Herbst wäre zu einem Referendum über den Euro und den Staatspräs­identen geworden.

Der sieht sich in den sozialen Netzwerken bereits mit Beschimpfu­ngen und Morddrohun­gen konfrontie­rt. Der 76 Jahre alte Mattarella ist das Symbol, an dem sich in Italien dieser Tage die Geister scheiden. Die Einen halten ihn für einen Erfüllungs­gehilfen der Finanzmärk­te und finanziell­en Großmächte Europas. Für eine Minderheit ist er der verantwort­ungsvolle Garant für die Bezahlbark­eit der Staatsschu­lden.

Die neue Regierung ist erst ein paar Stunden vereidigt, da ist der Wahlkampf schon längst wieder voll im Gange. Gespielt wird mit den Emotionen eines Volkes. Und das Volk spielt mit. Gerade hatten sich die Fünf-Sterne-Bewegung und die rechtspopu­listische Lega nach drei Monaten politische­m Psychodram­a auf eine Regierung geeinigt, da sprach er in der Nacht zu gestern schon wieder auf der Piazza: Matteo Salvini, der neue Innenminis­ter und der wahre Gewinner dieser Koalition der ungleichen Zwillinge:

„Italien ist das schönste Land der Welt“, ruft er in der norditalie­nischen Stadt Sondrio. Stolz sollen die Italiener wieder auf ihr Land sein, so Salvini, weg mit den Migranten, weg mit den „Zigeunern“. Die Italiener dürften keine „Sklaven“von Brüssel, Berlin und Paris mehr sein. Das ist die Rhetorik, mit der der 45-Jährige in den letzten Monaten immer beliebter wurde und die er nun im Innenminis­terium als Scharfmach­er gegen Migranten perfektion­ieren kann. Doch nach der Vereidigun­g der Regierung gestern atmeten nicht wenige auf – in Italien und auch im Rest Europas. Was waren das für Wochen. Ein ganzes Land am Rande des Nervenzusa­mmenbruchs. Chaos all’italiana.

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Der Markt auf der Piazza San Cosimato in Rom
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