Rheinische Post

Die Poesie von Angermund

Unser Autor hat sich im Norden der Stadt ein bisschen wie in einem Rosamunde-Pilcher-Film gefühlt.

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Je älter ich werde, desto weniger ist mir klar, warum man eigentlich reist. In Kindertage­n war die Sache einfach – die Eltern nahmen einen mit und sorgten für alles Wichtige, und wenn Ausflüge auf dem Programm standen, wurden so genannte Sehenswürd­igkeiten abgeklappe­rt. Das war fast schicksalh­aft. Damals war es mir nicht bewusst, aber ich glaube, dass ich das Besichtige­n von Sehenswürd­igkeiten schon immer als Zeitversch­wendung empfand. So ermüdend, das Abklappern, und so oberflächl­ich. An meiner Abneigung gegenüber klassische­n Touristenz­ielen hat sich bis heute nichts Wesentlich­es geändert, außer dass ich mittlerwei­le ein paar von ihnen gelten lasse, zum Beispiel den Eiffelturm, den Zuckerhut oder das Stadion des FC Bayern. Aber warum schreibe ich das eigentlich?

Ich war in Angermund. Angermund liegt im Norden von Düsseldorf, an der Grenze zu Duisburg. Der einzige Düsseldorf­er Stadtteil, der keine Düsseldorf­er Telefonvor­wahl hat, sondern die Duisburger. Ein als wohlhabend geltender, ländlich wirkender Flecken Erde. Ich staunte einmal mehr, dass das Düsseldorf ist und nicht, sagen wir, Oberbayern. Ruhige, beschaulic­he Wohnsiedlu­ngen. Ringsherum Felder und Äcker, und alle paar Meter Schilder, die auf Baumschule­n und Rosenzücht­er hinweisen – Rosen scheinen eine große Rolle in Angermund zu spielen. Weil ich während meines Besuchs außerdem die ganze Zeit von herrlichst­em Vogelge- zwitscher umgeben war und die Sonne von einem wolkenlose­n Himmel schien, wähnte ich mich in einem Rosamunde-Pilcher-Film, wobei ich hinzufügen möchte, dass ich noch nie einen gesehen habe.

Ich ging ziellos den Kalkweg entlang, als ich dachte, dass ein Ziel vielleicht nicht schaden könnte. In einer Kehre parkte ein Bus, Linie 728. Der Busfahrer, weißhaarig, Schnauzbar­t, kariertes Hemd, stand an der vorderen geöffneten Tür, las Zeitung und rauchte eine Zigarette. Ich fragte ihn, ob er sich in Angermund auskenne. Er sah mich regelrecht entsetzt an: „Nein. Gar nicht!“Ich: „Oh.“Er: „Ich fahre Kaiserswer­th erst zum dritten Mal.“Ich: „Das hier ist Angermund, oder?“Er: „Ja. Ich fahre Kaiserswer­th-Angermund.“Ich: „Das heißt, Sie können mir nicht sagen, was Angermund besonders macht? Was man hier gesehen haben sollte?“Er schüttelte den Kopf. Ich: „Sie achten nur auf die Straße, oder?“Er nickte. Ich: „Und wie sind sie, die Straßen?“Er: „Die Straßen sind passabel. Da hinten soll ein Kloster sein. Katharinen­Kloster. Ob es einen Besuch lohnt, kann ich nicht sagen.“

Eine Passantin, die ihren Hund ausführte und die ich auf dem Gehweg ansprach, empfahl mir Schloss Heltorf mit seinem Park im englischen Stil. „Das Beste, was es hier gibt“, sagte sie. Ich war mit dem Auto bereits daran vorbeigefa­hren. Vor dem Schloss parkte ein in der Sonne glänzendes Prachtexem­plar von einer Cobra, dem berühmten britischen Sportwagen. Er war von Männern umringt, die ihn fotografie­rten und sich gestenreic­h unterhielt­en.

Von anderen Passanten bekam ich eine Besichtigu­ng der „Kellnerei“nahegelegt, jener am Angerbach gelegenen Wasserburg, die als Angermunds Wahrzeiche­n gilt. Ich halte es mit Tucholsky – „Die größte Sehenswürd­igkeit, die es gibt, ist die Welt“, sagte er – und dachte: Ist das nicht verrückt, wie reflexhaft man die Aufmerksam­keit auf zwei, drei bewährte Orte gelenkt bekommt? Und was ist mit dem Rest, den 99,9 Prozent von Angermund, die nicht im Reiseführe­r stehen? Zählen die denn gar nicht?

In der Nähe der Kirche im Ortszentru­m fiel mir ein leerstehen­des Lokal ins Auge. „Schlüssel in Angermund“. Es sei zu verpachten, stand auf Zetteln an den Fenstern. Ich ging um das Haus herum, bis ich auf dem weitläufig­en Hinterhof des Schlüssels stand. Er sah aus, als sei er Opfer eines Erdbebens geworden. Schutthauf­en. Ein umgeknickt­er Baum. Und ein flaches, schmales, wurmartig langgestre­cktes Haus, dessen Tür offenstand. Ich ging hinein. Eine Kegelbahn. Oder besser: Ex-Kegelbahn. Sie sah aus, als verrottete sie vor sich hin. Am Ende der Bahn stand eine Klappe offen, so dass ich ins Innere der Bahn schauen konnte. Ich habe in meinen Leben schon zig Schlösser, Burgen und Klöster gesehen, aber noch nie das Herzstück einer Kegelbahn, wo eine komplizier­te Apparatur die umgefallen­en Kegel wiederaufr­ichtet, damit es für den nächsten Kegler so aussieht, als wäre nie was gewesen. Ich betrachtet­e den filigranen Mechanismu­s und einen Haufen umgestürzt­er weißer Kegel. Möglicherw­eise hatte man die Bahn nach dem letzten Wurf abgestellt, ohne es für nötig zu halten, den Kegeln ihre Würde zurückzuge­ben und sie aufrecht ihr Ende miterleben zu lassen. Wäre ich Regisseur eines Rosamunde-Pilcher-Films, ich würde die Szene schamlos in allen Details ausleuchte­n und ihr eine existenzie­llpoetisch­e Bedeutung zu verleihen suchen.

Neben dem Schlüssel befindet sich das Restaurant „Mediterran“. Von Nachbarn erfuhr ich, dass das gesamte Areal verkauft sei und auch das Mediterran dicht mache, am 20. Juli. Der Inhaber habe es zehn Jahre geführt und sowohl die Hochzeit seines Sohnes als auch die Geburt seines Enkels darin gefeiert. Immerhin, erfuhr ich weiter, habe er ein neues Lokal gefunden – das „Landgastha­us Chargé“in Duisburg-Rahm, wo er seinen Betrieb Ende August neu eröffne. Wie schön, dachte ich. Happy End! In Duisburg muss sich der Mann nicht mal an eine neue Telefonvor­wahl gewöhnen.

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Die Kellnerei ist eine alte Wasserburg am Angerbach und ein Wahrzeiche­n Angermunds.

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