Rheinische Post

Die erschütter­nde Reise des Kandidaten

Markus Feldenkirc­hen gewährt in „Die Schulz-Story“einen einmaligen Blick in den bundesdeut­schen Politikbet­rieb.

- VON HENNING RASCHE

Ein paar Wochen vor der Bundestags­wahl wunderte sich die „Welt“, dass kein Schriftste­ller oder Journalist sich allzu sehr für den Kanzlerkan­didaten Martin Schulz interessie­rte. Das Springer-Blatt hatte beobachtet, dass der SPD-Politiker nicht dauerhaft von einem Reporter begleitet werde. So wie Willy Brandt einst von Günter Grass oder selbst Peer Steinbrück vom Journalist­en Nils Minkmar. Schulz sei nicht einmal spannend genug für ein Buchprojek­t – das war die Schlussfol­gerung der „Welt“. Was für eine obskure Fehleinsch­ätzung.

Martin Schulz wurde sehr wohl begleitet, und zwar vom „Spiegel“Autor Markus Feldenkirc­hen. Herausgeko­mmen sind preisgekrö­nte Reportagen und „Die Schulz-Story“, ein Buch, das einen verblüffen­den, einen beinahe unfassbare­n Einblick in das Innerste der deutschen Politik gewährt. Schulz und Feldenkirc­hen hatten für dieses Buch nur eine Regel verabredet: Der Autor dürfe kein einziges Wort vor der Wahl veröffentl­ichen. Dafür erfuhr er alles: erlebte Aufstieg und Fall des Martin Schulz mit, las SMS von Sigmar Gabriel und saß bei den konspirati­vsten Treffen der Kampagne mit am Tisch. Feldenkirc­hen war derart nah am Kanzlerkan­didaten, dass wohl kein Politiker mehr so einen engen Zugriff gewähren wird.

Um es vorwegzune­hmen: Dieses Buch ist absolut lesenswert. Wer glaubt, in der zuvor veröffentl­ichten Reportage bereits alles Wesentlich­e erfahren zu haben, der irrt. Der Autor hat 320 Seiten verfasst, die Aufschluss geben. Aufschluss über den Zustand der sozialdemo­kratischen Partei, Aufschluss über die irren Mechanisme­n der Berliner Politik und mancher Medien, aber auch Aufschluss über einen Menschen mit allen Fehlern und Stärken, seiner Hoffnung und seiner Verzweiflu­ng, über einen Menschen, der Bundeskanz­ler werden wollte und brachial scheiterte.

Feldenkirc­hen nimmt sich in dem Buch, das sich wie eine lange und kurzweilig­e Reportage liest, angenehm zurück. Der Autor taucht zwar auf, aber er spielt keine Rolle. Es geht nicht um ihn, und das weiß Feldenkirc­hen. Er ist sehr nah dran, wird aber von der Nähe nicht eingenomme­n, er macht sich nicht mit dem Kandidaten gemein. Feldenkirc­hen lässt Martin Schulz seine Spra- che, die Sprache des Rheinlände­rs, der eher „Chulz“als „Schulz“heißt. Auch das beschreibt das Buch schließlic­h, wie die Vielzahl der Umfragen hinterherh­echelnden Berater dem Kandidaten sogar seinen Dialekt austreiben wollen. Für einen Wahlwerbes­pot muss Schulz so oft das Wort „manche“wiederhole­n, weil es immer klingt wie „mansche“, dass der Kandidat beinahe ausflippt. Man kann ihn gut verstehen in diesem Moment.

Dieses Buch ist daher auch erschütter­nd. Die Strategen der SPD verfolgen mit einer Selbstvers­tändlichke­it Mechanisme­n, deren Auswirkung­en sie nicht abschätzen können. Sie treiben ihm die Schärfe aus seinen Reden, aus Angst vor zu viel Polarisier­ung. Feldenkirc­hen beschreibt Sitzungen, in denen bereits beschlosse­ne verbale Attacken wieder abgesagt werden, aus Sorge davor, das könne bei der Bevölkerun­g falsch ankommen. Stattdesse­n kommen die weichgespü­lten Botschafte­n gar nicht mehr an.

Martin Schulz, der leidende Hoffnungst­räger, kann all das nicht abwenden, sondern lässt sich von einem wahnsinnig­en System mürbe machen, das er eigentlich verändern wollte. Ihm fehlt das Verständni­s für den Berliner Politikbet­rieb, weil er ihn nicht verstehen will. Schulz wollte es anders machen.

Feldenkirc­hens Beobachtun­gen sind einzigarti­g. „Womöglich ist es auch ein Problem, wenn man täglich vor derselben Keksmischu­ng sitzt“, schreibt der Autor über Martin Schulz, der sich in immer gleichen Runden mit immer gleichen Ritualen konfrontie­rt sieht. Der Leser lernt bei alldem einen Menschen kennen, der Martin Schulz heißt.

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Die beiden Gesichter des...
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... Kandidaten Schulz.
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