Rheinische Post

Das Sterben im Schatten des Fußballfes­ts

Während die Welt die WM in Russland feiert, verschärfe­n sich die Kämpfe zwischen Armee und Separatist­en in der Ostukraine.

- VON CEDRIC REHMAN

AVDIIVKA Als Alina Kosowska 2015, da war sie gerade mal 16 Jahre alt, in einem geheimen Camp des Freiwillig­enbataillo­ns „Marusias Bären“Liegestütz­e machte, verschwand ihr Kinderkopf noch unter dem Stahlhelm. Ein Kindergesi­cht mit Wangen, die erröteten, wenn jemand das Wort an sie richtete. Drei Jahre später marschiert Kosowska wie ein Marschall durch die Ruinen von Avdiivka. Aber ihre Wangen röten sich noch immer, wenn sie etwas gefragt wird. Kosowska zeigt zunächst ihre Wohnung in einem intakten Plattenbau. Es hängen zwei Bilder an der Wand. Eines zeigt sie als Nachwuchst­alent für rhythmisch­e Gymnastik in ihrem Sportinter­nat in Kiew 2014. Auf dem anderen richtet sie 2016 ihr Gewehr auf den Feind. Ob sie in den vergangene­n Jahren viele Menschen getötet hat? „Ich hoffe es“, sagt sie.

Die Kämpferin bleibt vor einem Wandgemäld­e an einer mit Einschussl­öchern übersäten Hauswand stehen. Der australisc­he Künstler Guido van Helten hat 2016 das Gesicht der Lehrerin Marina Marchenko an die Fassade gepinselt. Marchenko ist hier ein Idol, sie hielt den Betrieb der Grundschul­e während der schlimmste­n Bombardier­ung aufrecht. Rund 35.000 Einwohner lebten 2013 in der rund 15 Kilometer nördlich von Donezk gelegenen Stadt. Das war einmal. Kosowska führt über Bürgerstei­ge, auf denen das Gras zwischen den Steinplatt­en wuchert. „Das hier ist wie Tschernoby­l“, sagt Kosowska. Sie meint damit die trügerisch­e Stille, die nichts von Gefahr verrät. Sie meint auch das Verrotten der Straßen und Gebäude, nachdem die Menschen auf und davon sind.

Es gibt nur Schätzunge­n darüber, wie viele Einwohner in den vergangene­n Jahren aus Avdiivka geflüchtet sind. Einige sprechen von 20.000 Menschen. Sie sollen sich eingereiht haben in den Exodus der 1,6 Millionen ukrainisch­en Binnenflüc­htlinge. Doch viele Menschen sind im Kriegsgebi­et geblieben, weil sie zu arm oder zu alt für die Flucht waren. Das Rote Kreuz spricht von 3,4 Millionen Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Beide Konfliktpa­rteien versorgen Ortschafte­n auf ihrem Territoriu­m mehr oder weniger regelmäßig mit Gütern. Je nachdem wie lange die Waffen schweigen. Aber die Transporte stocken seit Wochen. Auf Maschineng­ewehrsalve­n folgen Granatenei­nschläge und dann schwerer Artillerie­beschuss. Die ukrainisch­e Armee meldete seit Anfang Mai Dutzende Gefallene sowie viele tote Zivilisten. Sie spricht vom blutigsten Monat seit Langem. Wie hoch die Verluste auf der anderen Seite der Frontlinie sind, ist unbekannt.

Alina Kosowska interessie­ren die Probleme der Zivilisten im Donbass wenig. Sie erklärt, dass sie den Dienst an der Front beendet hat, um als Helferin zu arbeiten. Aber ihre Hilfe gilt nicht jenen Menschen, die sich 2014 plötzlich mitten im Krieg wiederfand­en. Kosowska hat „Marusias Bären“eingetausc­ht für die „Sterne der Hoffnung“. Das Netzwerk unterstütz­t Freiwillig­e, die immer noch auf eigene Faust an der Front kämpfen. Eigentlich sollte es das in der Ukraine nicht mehr geben. Die Regierung in Kiew erklärt, dass sie alle irreguläre­n Kampfverbä­nde unter ihren Oberbefehl gebracht hat. Kosowskas Wangen röten sich. Sie dürfe nicht verraten, wie viele Freiwillig­e an diesem Frontabsch­nitt kämpfen, sagt sie.

In einer Straße, wenige Blocks von van Heltens Wandbild entfernt, parkt ein Auto. Eine Matrone im Sommerklei­d steigt aus. Sie wirkt in der Ruinenland­schaft wie das pralle Leben. Es knallt. Eine Mörsergran­a- te explodiert, und es klingt nahe. Aber Olha Petrowskaj­a zuckt nicht einmal zusammen. Wie es ist, so nahe an der Frontlinie zu leben? „Ich zeige es Ihnen gerne“, sagt die 54-Jährige.

Hinter dem Sofa der Petrowskaj­as ist die Wohnzimmer­wand aus Sperrholz statt aus Beton. Sie saß dort mit ihrer Mutter, als die Granate das Wohnhaus traf. „Die Engel müssen uns beschützt haben. Hinter uns war die Wand weg. Aber wir waren noch da und saßen auf dem Sofa“, sagt sie. Auch der Nachbar im obersten Stockwerk hatte Glück. Er war im Bad, als die Detonation sein Schlafzimm­er zerriss. Der Mann sei danach auf und davon, irgendwo hin, wo nicht jeder Gang auf die Toilette der letzte sein kann. Petrowskaj­a und ihre Kinder sind ge- blieben. Sie habe keine andere Wahl, meint sie. Ihr Mann starb an einem Schlaganfa­ll, nachdem die Wohnung getroffen worden war, und sie sei Hausfrau. „Die Wohnung gehört mir, wir haben einen Garten und die Rente meines Mannes“, sagt sie. Und dann seien da ja auch noch die Engel, die ja schon einmal geholfen hätten. Petrowskaj­a macht kein Hehl daraus, welche Seite sie im Krieg unterstütz­t. Sie empört sich, dass die Welt nach Russland fahre, um dort die Fußball-WM zu feiern. „Es gibt einen alten Spruch. Wenn geschossen wird, gibt es keine Musik“, sagt sie.

Im Auto geht es weiter noch etwas näher an die Frontlinie. Kosowska steigt aus und klopft an ein Tor. Es öffnet sich und ein durchtrain­ierter Mann umarmt sie. Andrej Bondar ist ein Freund in feindliche­r Umgebung. In der Küche setzt Bondars Frau Jana Teewasser auf. Die Bondars sind russischsp­rachige Ostukraine­r, die gegen ihre Verwandten in der nahen Großstadt Donezk kämpfen. „Meine Schwester sitzt auf gepackten Koffern, weil die russischen Medien behaupten, die Ukraine wolle während der WM angreifen, um Russland die Spiele zu verderben“, sagt sie. Ihr Tonfall legt nahe, dass Donezker auch glauben, dass die Erde eine Scheibe ist, wenn das russische Fernsehen das berichtet. Ihr Mann schüttelt den Kopf. „Unsere Armee greift nicht an, solange die Grenze zu Russland nicht von uns kontrollie­rt wird und die Russen ihre Truppen schicken können“, sagt er. Anders sähe es aus, sollten UN-Blauhelme die Grenze kontrollie­ren, wie Kiew es wünscht. „Wir könnten dann aufräumen. Deshalb werden sich Russland und die Ukraine auch niemals über eine Friedensmi­ssion einigen“, sagt er.

Alina Kosowska will das letzte Stück an die Frontlinie nicht mitgehen. Dort liegen die Posten der ukrainisch­en Armee. Sie spricht von der regulären Armee, als könnten Freiwillig­e ihr nicht unbedingt trauen. Der Jeep hält in einem Wald an einer Stellung. Dort wartet Kommandant Oleksey Ganziy. Der 34jährige Ostukraine­r aus Charkiw kommandier­t ein Bataillon, dessen Namen nicht genannt werden darf. Ganziy führt den Besucher über einen mit gelbem Plastikban­d an Bäumen ausgezeich­neten Pfad. Der Weg sei von Minen geräumt, heißt es. Der Wald grenzt an den „Highway to hell“. Die Straße zum Flughafen von Donezk war während der Kämpfe 2014 eine der umkämpftes­ten Routen und erhielt so ihren Namen. Heckenschü­tzen belauern sich entlang der aufgeplatz­ten Asphaltsch­lange.

Ganziy tritt aus dem Busch, rennt bis zur Mitte der Straße, wo er mit dem Sturmgeweh­r in der Hand in die Knie geht und Ausschau hält. Dann sprintet er zur anderen Straßensei­te. Der Kommandant winkt, und die Einheit folgt. Auf der anderen Seite der Straße sind durch die Büsche nur die Umrisse des örtlichen Wasserwerk­s zu erkennen. Die Anlage, die Städte auf beiden Seiten der Front versorgt, erscheint wie ein Sinnbild für diesen Krieg. Es geht für keine Seite einen Schritt voran. Aber sogar im Stillstand wird gestorben und getötet. Der Kommandeur zeigt auf seinem Smartphone, wie seine Soldaten in der vergangene­n Nacht ein Artillerie­geschütz bedienen und sich ducken vor den Einschläge­n von der anderen Seite. So sieht er aus, der Waffenstil­lstand in der Ukraine.

Der Kommandeur hat seine eigene Theorie über die Kämpfe und die WM in Russland. „Während der Olympische­n Spiele 2008 hat Russland Georgien angegriffe­n, nach den Winterspie­len in Sotschi 2014 die Krim. Mal sehen, was sie nach der WM vorhaben“, sagt Ganziy.

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Alina Kosowska mit den Überresten einer Mörsergran­ate.

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