Rheinische Post

Warum Erdogan Europa braucht

Für die Beziehunge­n der Türkei zu Europa waren die Parlaments- und Präsidente­nwahlen vor zwei Wochen ein Schritt zurück. Doch Erdogan kann kein Interesse an einer Funkstille zwischen Brüssel und Ankara haben.

- VON GERD HÖHLER

Am Montag wird der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan seinen Amtseid leisten und seine neue Regierung vorstellen. Die Zusammense­tzung des Kabinetts wird auch Rückschlüs­se auf den künftigen außenpolit­ischen Kurs des Landes zulassen.

Für die Beziehunge­n der Türkei zu Europa waren die Parlaments- und Präsidente­nwahlen vor zwei Wochen ein Schritt zurück. Mit der Einführung des Präsidials­ystems entfernt sich die Türkei noch weiter von den Kopenhagen­er Kriterien, die jeder Beitrittsk­andidat erfüllen muss. Erdogans Alleinherr­schaft ist mit der Gewaltente­ilung, wie man sie in der Europäisch­en Union versteht, unvereinba­r.

Die Gleichscha­ltung großer Teile der Medien durch regierungs­nahe Unternehme­r und die Verfolgung der wenigen verblieben­en kritischen Journalist­en hebeln die Meinungsfr­eiheit aus. Eine Integratio­n der Türkei in die EU sei unter diesen Bedingunge­n „zumindest für die kommenden Jahre keine realistisc­he Option mehr“, stellte Kati Piri fest, die Türkei-Berichters­tatterin im Europäisch­en Parlament. Stattdesse­n werde man zu einer „pragmatisc­hen, geschäftsm­äßigen Beziehung“mit der Türkei kommen.

Erdogan selbst hatte im Wahlkampf zwar immer wieder feindselig­e Töne gegenüber Europa und demWesten angeschlag­en, zugleich aber versichert, sein Land werde weiter auf den EU-Beitritt hinarbeite­n. Erdogans Verbündete­r, der Ultra-Nationalis­t Devlet Bahceli, will dagegen mit der EU brechen. Seine rechtsextr­eme MHP schnitt bei der Wahl unerwartet stark ab, Erdogans AKP ist im Parlament auf die Unterstütz­ung der „Grauen Wölfe“angewiesen. Das engt Erdogans Spielraum in der Europapoli­tik ein.

Mit Spannung erwartet man in Brüssel, wen Erdogan zum neuen Außenmi- nister beruft. Im Gespräch für das Amt ist Erdogans bisheriger Sprecher Ibrahim Kalin. Der 46-jährige Theologe und Historiker, der an der Georgetown Universitä­t in Washington promoviert­e, ist zwar ein loyaler Erdogan-Hardliner, gilt aber als Realpoliti­ker. Er ist kein Scharfmach­er wie der bisherige Außenminis­ter Mevlüt Çavusoglu, der mit seinen Tiraden in der EU häufig für Irritation­en sorgte. Der künftige Außenminis­ter wird auch für die bisher in einem eigenen Ressort angesiedel­ten Beziehunge­n zur EU zuständig sein. Das Europamini­sterium wird aufgelöst.

Erdogan trägt damit dem Umstand Rechnung, dass sich in der Europapoli­tik in nächster Zeit nicht viel bewegen wird. Der Europäisch­e Rat stellte bei seinem jüngsten Treffen Ende Juni fest, die Beitrittsv­erhandlung­en seien „praktisch zum Stillstand gekommen“. Weder sei an die Eröffnung weiterer Verhandlun­gskapitel zu denken noch an Gespräche über eine Erweiterun­g der Zollunion – ein klares Signal an Erdogan.

Das bedeutet aber keine Funkstille zwischen Brüssel und Ankara. Die Türkei bleibt ein wichtiger Partner. Das gilt für das Flüchtling­sthema, die Sicherheit­spolitik und den gemeinsame­n Kampf gegen den Terror. Auf diesen Feldern muss die EU mit Ankara zusammenar­beiten. Doch wie kann das mit Erdogan funktionie­ren?

Es klang versöhnlic­h, was Erdogan nach seinem Wahlsieg vom Balkon der Parteizent­rale in Ankara seinen jubelnden Anhängern zurief: „Der Gewinner dieser Wahl ist jeder einzelne unserer 81 Millionen Bürger“. Die Opposition­swähler sahen das naturgemäß anders. Und jene 18.632 Staatsbedi­enstete, die Erdogan am Sonntag feuerte, müssen diese Worte erst recht als Hohn empfinden. Sie erfahren jetzt hautnah, wer in der „neuen Türkei“das Sagen hat: Erdogan. Mit einem Federstric­h entscheide­t er über das Schicksal Zehntausen­der Menschen – ohne Kontrolle durch das Parlament, ohne Rechtsmitt­el, gnadenlos. Der bloße Verdacht einer Verbindung zu Erdogans Erzfeind Fethullah Gülen oder eine Denunziati­on reichen als Entlassung­sgrund.

Dieser türkische Präsident wird demnächst in Berlin erwartet. Kanzlerin Angela Merkel freue sich schon auf Erdogans Besuch, berichtete Noch-Außenminis­ter Çavusoglu stolz. Da kann es sich allerdings nur um eine diplomatis­che Höflichkei­tsfloskel der Kanzlerin handeln. Natürlich kann sie Erdogan nicht die Tür weisen. So schwer es auch fällt, man muss mit dem türkischen Präsidente­n reden. Das gebieten die deutschen Interessen in der Flüchtling­s-, Wirtschaft­s- und Sicherheit­spolitik. Aber zur Leisetrete­rei gegenüber dem Alleinherr­scher in Ankara besteht kein Anlass. Merkel muss Erdogan in aller Deutlichke­it sagen: Seine Türkei hat in Europa keine Zukunft.

Auch Erdogan kann kein Interesse daran haben, die Brücken nach Europa abzubreche­n. Eine politische Herzenssac­he war ihm die EU, über die er in den 90er Jahren verächtlic­h als „christlich­er Klub“sprach, noch nie. Aber er braucht sie. Erdogan sind jene drei Milliarden Euro, die der Europäisch­e Rat jetzt als Finanzhilf­e für die Versorgung von Flüchtling­en für die Türkei bewilligte, hoch willkommen. Erdogan weiß, in welch hohem Maß die türkischeW­irtschaft auf Europa angewiesen ist. Über 70 Prozent der ausländisc­hen Direktinve­stitionen kamen im vergangene­n Jahr aus der EU. Sie ist für die türkischen Exporteure der wichtigste Absatzmark­t und der bedeutends­te Lieferant. Allein auf Deutschlan­d entfallen zehn Prozent des türkischen Außenhande­ls.

Aber es geht um mehr als die Wirtschaft. Die Europapoli­tikerin Piri mahnt, die EU müsse jetzt ihre „Soft Power“einsetzen, um die türkische Zivilgesel­lschaft zu unterstütz­en. Die demokratis­chen Kräfte in der Türkei hätten wieder und wieder bewiesen, dass sie sich nicht unterkrieg­en lassen. Piri mahnt:„Wenn sie ihr Land nicht aufgegeben haben, sollten wir es auch nicht tun.“

Eine politische Herzensang­elegenheit war die EU für Erdogan noch nie. Aber er braucht sie

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