Rendezvous mit der Realität
Die Krise der Union ist mit Mühe überwunden, jetzt müssen Angela Merkel und Horst Seehofer liefern. Ihr Rückhalt bei den Bürgern bröckelt.
BERLIN CDU und CSU kehren die Scherben ihrer Krise zusammen. Viel ist zu Bruch gegangen: Vertrauen, Zusammenhalt, Energie. Aber auch bei den Bürgern hat der erbitterte Machtkampf zwischen den beiden Parteivorsitzenden Angela Merkel und Horst Seehofer Spuren hinterlassen. Wenn etwas gestärkt wurde in diesen dramatischen Tagen mit Schlagworten von Abgrund bis Chaos, dann wohl die Politikverdrossenheit. Jedenfalls finden nach einer Umfrage für die„Bild am Sonntag“71 Prozent der Befragten, dass der Anstand in der Politik verloren gegangen sei.
Die Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Emnid fördert jedoch noch viel mehr zu Tage. Innenminister Seehofer hat nach Ansicht von 69 Prozent der Deutschen dem Ansehen der Politik geschadet, 46 Prozent sagen das über die Kanzlerin. Und auch auf die Frage nach Gewinnern und Verlierern gibt es eine erste Antwort: Die AfD ist auf einen Rekordwert von 17 Prozent in der Wählergunst gestiegen – und jetzt erstmals so stark wie die SPD. Dabei haben sich die Sozialdemokraten aus dem ganzen Unionstheater herausgehalten und maßgeblich für den Kompromiss mit CDU und CSU gesorgt. Deren Union kommt nur noch auf 30 Prozent. Damit hätte die Koalition keine Mehrheit mehr.
Nach den nächtelangenVerhandlungen über den künftigen Kurs in der Asylpolitik, dem harten Ringen in großen und kleinen Runden und einem Kompromiss, den Seehofer bei der ersten Gelegenheit in Wien wieder aufweichte, um danach wieder Härte zu zeigen, steht der Koalition jetzt dies bevor: das Rendezvous mit der Realität.
Merkels Ruf als Krisenmanagerin hat gelitten. Das könnte ihre Position bei internationalen Treffen schwächen, die es in dieserWoche von hohem Rang gibt: die deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen am Montag in Berlin, die Westbalkankonferenz am Dienstag in London, der Nato-Gipfel am Mittwoch und Donnerstag in Brüssel.
US-Präsident Donald Trump nützt alles, was Merkel schadet. Das Foto vom G 7-Gipfel in Kanada hatte ihn geärgert, auf dem Merkel ihm inmitten der Staats- und Regierungschefs so etwas wie eine Standpau- ke zu halten und er wie ein bockiger Junge mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl zu sitzen schien. Inzwischen hat er Deutschland erneut ermahnt, die Nato-Vereinbarungen einzuhalten und mehr Geld für das Militär auszugeben. Merkels starke Rolle in Kanada und das zaghafte Zusammenrücken der EU gegen Trump ist von der Erschütterung ihrer Regierung erst einmal in den Hintergrund geraten.
Und Seehofer will am Dienstag endlich jenen 63-Punkte-Plan der Öffentlichkeit erklären, der unter Ziffer 27 beinahe zum Regierungsbruch geführt hätte und nun entschärft ist. Eigentlich wollte er alle Flüchtlinge, die in einem anderen EU-Land bereits registriert wurden, an der deutsch-österreichischen Grenze zurückweisen lassen.
Nun geht es nur noch um Asylbewerber, die anderswo schon einen Asylantrag gestellt haben. Und diese sollen auch nicht in geschlossenen Transitzentren an der Grenze festgehalten, sondern in Einrichtungen der Bundespolizei untergebracht und binnen 48 Stunden zurückge- schickt werden. Voraussetzung ist, dass ein Abkommen mit dem zuständigen Land ausgehandelt werden kann – das soll Seehofer gleich am Mittwoch in Innsbruck mit seinen Amtskollegen aus Österreich und Italien versuchen. Die Spannung ist groß, ob er seinen „Masterplan Migration“dann besser verteidigt als am vorigen Donnerstag in Wien. Da versicherte er Kanzler Sebastian Kurz, nichts zu Lasten Österreichs zu unternehmen.
Die SPD könnte sich nun sehr genau überlegen, ob sie wie im Asyl-
streit unaufgeregt und zielstrebig nach einem Kompromiss sucht oder mal auf die Pauke haut, um die Aufmerksamkeit auf sozialdemokratische Forderungen zu richten. Denn gemessen an der Momentaufnahme der Umfrage hat sie von ihrer stabilisierenden Rolle in dem Unionsstreit nicht profitiert. Im Gegenteil, sie wird weiter nach unten gerissen.
Innenminister Seehofer tut so, als wäre das Zerwürfnis in der Union gar nicht so schlimm gewesen. In der „Bild am Sonntag“erklärt er den Unterschied zwischen Windschutzscheibe und Rückspiegel. Für ihn sind es Metaphern für Zukunft und Vergangenheit. Aber die Windschutzscheibe sei größer.„Wir schauen nach vorne“, sagt er. Und selbstverständlich könne er mit Merkel weiter vertrauensvoll zusammenarbeiten. Niemand habe den Fortbestand der Regierung infrage gestellt. Der Eindruck, den die Union aber hinterlassen hat, ist genau dieser: dass die Koalition am seidenen Faden hängt.