Das Ende des Ballbesitzfußballs ist noch nicht gekommen
Der größte Unterschied zwischen den früh gescheiterten Spaniern und Deutschen und den Halbfinalisten liegt in der Besetzung der Teams – nicht in der Taktik.
Frankreich gegen Belgien und England gegen Kroatien: Mit diesen Halbfinal-Paarungen hätte vor dem Turnier kaum einer gerechnet. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber: Die vier Halbfinalisten repräsentieren die taktischen und fußballerischen Trends dieser WM.
Über einen dieser Trends wird ausgiebig debattiert: das vermeintliche Ende des Ballbesitzfußballes. Das frühe Scheitern Deutschlands und Spaniens habe bewiesen, dass hohe Ballbesitzwerte einem Team mehr schaden als nützen. So pauschal lässt sich das nicht halten. In den europäischen Spitzenligen hießen die Meister in diesem Jahr Manchester City (durchschnittlich 66,4 Prozent Ballbesitz), Paris St. Germain (62,6), Bayern München (62,4), FC Barcelona (60) und Juventus Turin (56).
Fünf Euro ins Phrasenschwein: Entscheidend ist nicht, wie viel Ballbesitz man hat, sondern was man mit dem Ball anstellt. Deutschland und Spanien haben gezeigt, wie man es besser nicht macht. Sie spielten ihren Ballbesitz in erster Linie als „defensives Stilmittel“aus. Das Motto: Wenn sie selbst den Ball haben, kann der Gegner kein Tor schießen. Am entscheidenden Pass in den Strafraum scheiterten beide Teams.
Die verbliebenen WM-Teilnehmer spielen gar nicht so viel weniger Pässe pro Partie (rund 500) als Deutschland (600) oder Spanien (700). Was sie vom deutschen und vom spanischen Team unterscheidet: Ihr Spiel ist stärker darauf ausgelegt, aus dem ersten Drittel Geschwindigkeit aufzunehmen. Gerade Belgien und Frankreich versuchen, nach dem ersten Pass aus der Abwehr den Angriff sofort zu Ende zu spielen.
Der größte Unterschied zu Spanien und Deutschland zeigt sich in der Besetzung der Teams: Während die Weltmeister von 2010 und 2014 auch nach Turnierstart personell experimentierten, haben alle Halbfinalisten eine feste erste Elf. Sie wechselten während des Turniers höchstens auf ein, zwei Positionen. Interessant ist zudem, dass sämtliche Halbfinalisten eine taktische Formation gefunden haben, die auf ihr Personal zugeschnitten ist. Frankreich spielt mit einem 4-2-3-1-System, in dem Rechtsaußen Kylian Mbappé höher agiert als der jeweilige Linksaußen. Hiermit soll seine Schnelligkeit bei Kontern genutzt werden.
Belgien setzte – mit Ausnahme des Brasilien-Spiels – auf ein offensives 3-4-3-System, bei dem die Außenstürmer weit in die Mitte rücken. Gerade Eden Hazard kann in diesem System als einrückender Linksaußen aufblühen. Kroatien hat sein 4-3-3-System um die Mittelfeld-Strategen Luka Modric und Ivan Rakitic gebaut, während bei England das Kollektiv im 5-3-2-System der Star ist. Die Engländer überzeugen vor allem mit ihrer stabilen Defensive. Kein Team verschiebt so gewissenhaft wie die Engländer. Alle Teams eint, dass sie im Zweifel die Eingespieltheit über taktische Experimente setzen.
Für einen weiteren Trend stehen die Engländer exemplarisch: Standardsituationen. Fast 40 Prozent der Treffer wurden nach ruhenden Bällen erzielt. Fünf der elf englischen Tore fielen nach Freistößen oder Ecken, hinzu kommen drei Tore per Elfmeter. Englands Trainer Gareth Southgate legt großen Wert auf einstudierte Standard-Varianten. Vor der Weltmeisterschaft reiste er nach Amerika, um sich Inspirationen zu holen im American Football und im Basketball. In diesen beiden Sportarten nimmt das Blocken ohne Ball einen großen Stellenwert ein. Southgate über- trägt dieses Konzept auf den Fußball.
Ob England auch im Halbfinale dank eines Standards in Führung geht? Unwahrscheinlich ist es nicht, da die Kroaten bei ruhenden Bällen anfällig sind. Im Spiel Belgien gegen Frankreich erwarte ich ein offensives Spektakel, bei dem beide mit schnellen Steilpässen die Abwehr des Gegners aushebeln. Auch wenn kaum einer mit diesen Halbfinals gerechnet hat: Es erwarten uns spannende Partien, die am Ende einen würdigen Weltmeister hervorbringen.