Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Roman Folge 38
Nein. Ich muss zurück. Schön wäre es, hier zu liegen in der frischen Luft, die Augen zu schließen und den Traum der Erde zu träumen.“
Er glitt zu Boden in den Schnee. Die Mütze war ihm vom Kopf gefallen, sein Haar klebte feucht an der Stirne.
Von einer plötzlichen Angst erfasst, beugte sich Vittorin über ihn. „Sie sind verwundet.“
Graf Gagarin schüttelte den Kopf. „Doch, Sie sind verwundet“, rief Vittorin. „Lassen Sie mich sehen –“
„Nun gut, so bin ich also verwundet“, sagte Graf Gagarin mit einer Bewegung der Ungeduld. „Um des Himmels willen, so gehen Sie jetzt. Wenn Sie in dieVorstadt von Berdiczew kommen, so schicken Sie mir einen Bauern, der mag mich nachts in einem Schlitten holen. – Ein lettischer Scharfschütze, er stand links oben am Waldrand, ich sah ihn, da war es schon zu spät, in das Bein hat er mich getroffen. Und nun eilen Sie, rechts müssen Sie sich halten, sonst laufen Sie der Patrouille in die Arme. Gehen Sie doch, nicht umsonst will ich Sie bisher geführt haben.“
„Ich werde selbst mit dem Schlitten kommen, um Sie zu holen“, sagte Vittorin. „Wie aber, wenn Sie inzwischen die Patrouille findet?“
„Ach, so viel Fragen, und die Zeit vergeht. Machen Sie sich doch nicht Sorgen. Ich weiß, wie man mit diesen Leuten reden muss, ich werde ihnen schon irgend etwas erzählen. Dass ich von den Freiwilligen desertiert bin, um für das rote Russland zu kämpfen. Sie werden mir ein Pfund Tee abnehmen und ein paar Stückchen Seife, und dann werden sie mich in irgendein Lazarett bringen, mehr wird schon nicht geschehen. – Nein, keine langen Abschiedszeremonien, Kamerad. Nimm dein Herz in die Hand und lauf um dein Leben.“
Er lief um sein Leben, doch er kam nicht weit. In der Mitte des Weges stieß er auf die rote Patrouille.
Eine Kugel sauste über seinen Kopf hinweg, eine zweite streifte sein Ohr. Er warf sich in den Schnee. Keuchend blieb er liegen, das Blut brauste und pochte an seinen Schläfen. Als er wieder zu Atem kam, rief er, so laut er konnte, in die falsche Richtung schrie er:
„Überläufer! Nicht Überläufer!“
Hinter einer Schneewächte tauchten vier Rotarmisten auf. Mit schussfertigen Gewehren kamen sie auf ihn zu. Und der Vorderste, der einen Sackleinenmantel und an der Mütze eine rote Kokarde trug, blieb stehen und sagte mit einem spöttischen Ausdruck in seinem Gesicht:
„Ein Überläufer. Trägt einen Bauernrock und will durch die Front. Nun, wir werden sehen, was du für ein Überläufer bist. Wo ist der andere?“
Vittorin hatte sich aufgerichtet. „Ich bin allein.“
„Lüge nicht, Hundesohn!“brüllte der Anführer der Patrouille. „Der andere, der auf den Baum gestiegen ist. Wo hast du ihn gelassen?“
Vittorin wischte sich die Schweißtropfen von der Stirne.
„Dort bei dem Wärterhäuschen“, sagte er. „Vielleicht ist er zurückgegangen.“
„Nun, weit wird er nicht gekommen sein. Vorwärts, geh voran! Wenn du versuchst zu entwischen, bekommst du eine Kugel mit auf den Weg.“ schießen!
Bei dem Wärterhäuschen fanden sie den Grafen Gagarin. Er hatte den Stiefel ausgezogen und mit einem Leinwandfetzen sein zerschossenes Knie verbunden. Als er die roten Soldaten kommen sah, machte er ein paar lange Züge aus seiner Zigarette. Ohne Hast zu zeigen, holte er eine Schleife mit den Farben Russlands aus der Tasche und befestigte sie sorgfältig an dem Ärmel seines Rockes. Dann griff er nach dem Revolver, der neben ihm im Schnee lag, ließ ihn ein paar Sekunden im Licht derWintersonne blinken, setzte ihn an die Schläfe und drückte ab.
Mit ein paar Sprüngen war der Anführer der Patrouille bei ihm. Er nahm die Hand des Toten und betrachtete sie.
„Ich dachte mir’s“, sagte er. „Ein Gutsbesitzerssöhnchen. Ein weißgardistischer Offizier. Nun, er hat sich selbst seinen Teil gegeben, gründlich hat er sich’s besorgt. – Durchsucht seine Taschen!“
Niemand achtete auf Vittorin. Er hätte fliehen können, doch er stand wie betäubt und starrte voll Entsetzen auf den jungen russischen Offizier, der dort bleich und mit geschlossenen Augen im Schnee lag und den Traum der Erde träumte.
„Jung ist er, die Milch riecht man noch auf seinen Lippen“, sagte einer von den Soldaten. „Hat aber schon eine Liebste gehabt und ihr Bild an der Brust getragen.“
Er warf das Bild in den Schnee. „Und was, Genosse, machen wir mit diesem?“fuhr der Soldat fort. „Auch solch ein Spion. Sollen wir ihn nicht seiner Hochwohlgeboren, diesem Herrn Offizier, als Adjutanten nachschicken?“
Der Anführer der Patrouille trat auf Vittorin zu.
„Darüber mag der Kommandant entscheiden“, sagte er. „Fort mit ihm! Zum Verhör.“
In einer Scheune eingeschlossen, die unmittelbar hinter der Frontlinie lag, wartete Vittorin vergeblich darauf, zum Verhör gerufen zu werden. Man schien ihn völlig vergessen zu haben. Auf keine seiner Fragen erhielt er von dem Rotarmisten, der ihn bewachte, Antwort. Am Nachmittag wurde der Posten abgelöst. Eine Stunde später brachte manVittorin nach Berdiczew in das Grigorowsche Gefängnis.
Ein beklemmendes Schweigen lag über den Gassen der Stadt. Es begann zu dunkeln, doch in keinem Fenster zeigte sich ein Lichtschein. Auf dem Trödelmarkt standen Leute, die das, was ihnen von ihrer Habe entbehrlich schien, verkaufen wollten. Ein junges Mädchen bot mit ängstlichem Gesichtsausdruck einem Händler Küchengeräte und einen gelbseidenen Fenstervorhang an. Ein gebückt gehender alter Mann trug eine chinesische Vase in der einen und ein Paar geflickte Segelleinenschuhe in der anderen Hand. Als sich die Rotarmisten, die Vittorin eskortierten, dem Platze näherten, stoben Käufer und Verkäufer in wilder Flucht auseinander, nur der alte Mann mit der chinesischen Vase blieb stehen und suchte sich hinter einer Bretterbude zu verbergen.
Die hölzernen Gehsteige waren abgebrochen, man hatte sie schon im Herbst als Heizmaterial verwendet.