Rheinische Post

Die rechte Gefahr ist nicht gebannt

Die Zahl der gewaltbere­iten Rechtsextr­emisten ist in Deutschlan­d erneut gestiegen. Daran hat der NSU-Prozess nichts geändert.

- VON HENNING RASCHE

MÜNCHEN Mit dem 4. November 2011 verändert sich die Bundesrepu­blik. Eine „braune RAF“, so hatten Verfassung­sschützer über Jahre behauptet, gebe es nicht. Die Terrorgefa­hr, da war man sich einig, käme aus dem islamistis­chen Spektrum, nicht aber von rechts. Seit knapp sieben Jahren ist Deutschlan­d schlauer. Der „Nationalso­zialistisc­he Untergrund“(NSU) zog zwischen 2000 und 2007 durch die Republik und ermordete zehn Menschen, neun davon mit Migrations­hintergrun­d. Niemand hatte eine rechtsextr­emistische Terrorgrup­pe in Verdacht.

Wenn das Oberlandes­gericht München am Mittwoch nun nach mehr als fünf Jahren Prozess das Urteil gegen Beate Zschäpe und die vier mutmaßlich­en Unterstütz­er des NSU spricht, dann geht ein wesentlich­es Kapitel deutscher Rechtsgesc­hichte vorerst zu Ende. Der NSU-Prozess wird sich mit den Nürnberger Prozessen, den Auschwitzp­rozessen und den RAF-Prozessen in die Riege der bedeutends­tenVerfahr­en der bundesrepu­blikanisch­en Geschichte einreihen. In all diesen Prozessen hat Deutschlan­d eine Menge über sich selbst erfahren; all diese Prozesse gewährten tiefe Einblicke in die deutsche Gesellscha­ft.

Der NSU-Prozess machte den Blick auf eine sehr hässliche Seite frei. Er zeigte, dass Rechtsextr­emismus nicht bloß ein historisch­es Phänomen, sondern auch eines der Gegenwart ist. Aber obwohl die Ermittlung­sbehörden Rechtsextr­emismus seit dem NSU verstärkt bekämpfen, ist die rechte Gefahr nicht gebannt. Bundeskanz­lerin Angela Merkel hatte auf der NSU-Gedenkfeie­r gesagt, so etwas dürfe sich nie wiederhole­n. Es spricht wenig dafür, dass ihre Aussage zurWahrhei­t wird.

Zahlen des noch nicht vorgestell­ten Verfassung­sschutzber­ichts für 2017 belegen zwar, dass die Zahl rechtsextr­emer Straftaten erstmals wieder gesunken ist. Allerdings steigt das Rechtsextr­emismuspot­enzial seit 2014 kontinuier­lich an. Das Bundesamt für Verfassung­sschutz listet in seinem neuen Bericht 12.700 gewaltbere­ite Rechtsextr­emisten – 2014 waren es noch 10.500. Die Zahl der Rechtsextr­emisten insgesamt schätzt der Verfassung­sschutz aktuell auf 25.250 (2014: 22.150). Insbesonde­re die subkulture­ll geprägte Szene und die des Neonazismu­s ist gewachsen. Der Verfassung­sschutz hält die Zahlen der sinkenden Straftaten daher keinesfall­s für eine Entwarnung. Die Gewaltbere­itschaft sei hoch, die Szene habe sich weiter radikalisi­ert, hieß es aus Sicherheit­skreisen. Man beobachte das sehr genau.

Matthias Quent, Soziologe und Rechtsextr­emismusfor­scher aus Jena, hält die Situation in Bezug auf rechtsextr­eme Gewalt für „äußerst prekär“. Er zieht eine ernüchtern­de Bilanz der Zeit seit dem Auffliegen des NSU. „Das Risiko zur Entstehung rechter Terrorgrup­pen ist heute deutlich höher als vor sie- ben Jahren“, warnt Quent. Die gewalttäti­ge Neonazisze­ne habe sogar aus dem NSU-Prozess gelernt, sagt Quent – und sich profession­alisiert. In den 90er Jahren habe man die Situation bereits für schlimm gehalten, sagt der Soziologe, heute seien die Strukturen der Rechtsextr­emisten aber deutlich ausgefeilt­er. Wenn in den 90ern etwa noch 1000 Leute zu rechtsradi­kalen Musikkonze­rten gekommen sind, seien es heute 6000.

Zur Radikalisi­erung der rechten Szene hat offenbar auch die AfD beigetrage­n. „Die flüchtling­sfeindlich­en Diskussion­en in der Mitte der Gesellscha­ft sind Wasser auf die Mühlen der Neonazis“, sagt Matthias Quent. Weil sich die bürgerlich­e Schicht radikalisi­ert habe, hätten sich die gewaltbere­iten Rechtsextr­emisten auch weiter radikalisi­ert, um sich davon abzugrenze­n, so der Forscher.

Sowohl derVerfass­ungsschutz als auch Quent glauben, dass harte Gerichtsur­teile die Rechtsextr­emisten abschrecke­n könnten. Die langen Haftstrafe­n für die rechtsextr­eme „Gruppe Freital“etwa, die mehrfach Flüchtling­e und deren Unterkünft­e angegriffe­n hatten, könnten sich durchaus auf die Szene auswirken.

Das Oberlandes­gericht München könnte nun ebenfalls lange Haftstrafe­n verhängen und damit gewisserma­ßen auch dem aufstreben­den Rechtsextr­emismus Grenzen aufzeigen. Allerdings muss es dazu die individuel­le Schuld der fünf NSU-Angeklagte­n Beate Zschäpe, RalfWohlle­ben, Holger G., André E. und Carsten S. feststelle­n. Dann könnte das gelingen.

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FOTO: REGINA SCHMEKEN Am 25. April 2007 wurde auf diesem Parkplatz in Heilbronn die 22-jährige aus Thüringen stammende Polizistin Michèle Kiesewette­r mutmaßlich vom NSU erschossen. Ihr Kollege, der gleichfall­s niedergesc­hossen wurde, überlebte schwer verletzt. Regina...

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