Rheinische Post

Salisbury hält den Atem an

In der britischen Kathedrale­nstadt sind die Menschen nach der zweiten Nowitschok-Vergiftung beunruhigt.

- VON SEBASTIAN BORGER

SALISBURY Er sei heilfroh, sagt Peter Kirkham und wischt sich den Schweiß von der Stirn, „dass dies nicht mein Fall ist“. Während seiner Arbeit als Mordkommis­sionsleite­r bei der weltberühm­ten Londoner Polizeibeh­örde ScotlandYa­rd haben seine Beamten immer wieder Grünfläche­n auf der Suche nach Tatwaffen durchkämmt. „Aber wir wussten auch, wonach wir suchten – blutversch­mierte Messer oder Ähnliches.“Kirkham schaut über die Polizeiabs­perrung hinüber zum Queen Elizabeth Gardens, ein Park am Ufer des Avon-Flusses im südenglisc­hen Städtchen Salisbury. „Diesmal sind die Kollegen auf Mutmaßunge­n angewiesen.“

Dass in Salisbury zum zweiten Mal binnen vier Monaten ahnungslos­e Menschen mit Nowitschok vergiftet wurden, haben die zuständige­n Experten bestätigt. Die beiden jüngsten Opfer Dawn Sturgess (44) und Charlie Rowley (45) aus der örtlichen Obdachlose­n-Szene wurden Ende Juni bewusstlos ins Kreiskrank­enhaus eingeliefe­rt, Sturgess verstarb am Sonntag, Rowley ringt mit dem Tod. Wie aber kamen sie mit dem chemischen Kampfstoff in Berührung? War er in einem Parfümzers­täuber enthalten, einem Glasfläsch­chen, einer Tube?

Der Pensionist Kirkham ist nach Salisbury gekommen, um britischen TV-Sendern bei der Interpreta­tion der spärlichen Kripo-Informatio­nen zu helfen. Am Sonntag machte auch Innenminis­ter Sajid Javid einen Besuch in dem pittoreske­n Marktfleck­en, sprach mit Besuchern und Geschäftsb­esitzern, lobte die einge- setzten Fachkräfte von Polizei und Feuerwehr. Der konservati­ve Politiker klang deutlich zurückhalt­ender als Tage zuvor im Unterhaus, wo er in harschen Worten Aufklärung aus Moskau verlangte. „Wir wollen keine voreiligen Schlüsse ziehen“, sagte Javid vor Ort. Erst müsse die Polizei in Ruhe ihre Arbeit erledigen.

Das kann dauern. An den bekannten letzten Aufenthalt­sorten der beiden Opfer, darunter auch dem Queen Elizabeth Gardens, suchen Beamte nach Hinweisen. Wegen der großen sommerlich­en Hitze können sie jeweils nur einige Minuten in ihren Spezialanz­ügen verbringen. Eingesetzt werden auch Gasmasken und Drohnen.

Auf gespenstis­che Weise wiederhole­n sich damit in Salisbury und dem zwölf Kilometer entfernten Amesbury, wo Rowley in einem Drogenentz­ugsprojekt lebte, die Szenen vom vergangene­n März. Damals waren auf einer Parkbank mitten in Salisbury der von Grossbrita­nnien aus russischer Haft freigekauf­te Ex-Agent Sergej Skripal, damals 66, und seine 33-jährige Tochter Julia bewußtlos aufgefunde­n worden. Die Grünfläche am Fluss Avon ist nur wenige Fußminuten entfernt vom Queen Elizabeth Gardens, wo sich Sturgess und Rowley am Abend vor ihrer Einlieferu­ng ins Krankenhau­s aufhielten. Die Skripals konnten nach wochenlang­er Behandlung entlassen werden; öffentlich­e Erklärunge­n zu ihrem Fall haben sie nie abgegeben.

Im Fall der Skripals war die Mordwaffe offenbar auf die Türklinke von Sergejs Haus geschmiert, wie sich den extrem spärlichen Informatio­nen der Sonderkomm­ission entnehmen lässt. Diesmal deutet vieles darauf hin, dass es sich bei den beiden Obdachlose­n um Zufallsopf­er handelt. Kann es also jedermann treffen? Ist das Gift noch immer wirksam, und wie lange?

Auf solche Fragen gibt es keine Antworten. Zum Einen wurde Nowitschok nie großflächi­g angewendet, über die Verweildau­er des Kampfstoff­s in der Natur ist wenig bekannt. Zum Anderen sind sich selbst die Experten nicht einig. Im BBC-Radiomagaz­in Today streiten zur besten Sendezeit die Fachleute darüber, ob Nowitschok durch die Haut in den Körper eindringt oder nur durch den Mund aufgenomme­n werden kann.

Dementspre­chend verhalten ist die Stimmung vor Ort. Enttäuscht seien seine Bürger, sagt der Leiter der Stadtregie­rung, Matthew Dean. Natürlich mache man sich Sorgen um die Besucherza­hlen. „Wir wollen doch der Welt sagen, dass es hier sicher ist. Das ist momentan eine Herausford­erung.“Abwartend äußert sich auch Domherr Edward Probert im kühlen Kreuzgang seiner gotischen Kathedrale. Natürlich habe Salisbury einen Schock erlitten, beschreibt der anglikanis­che Pfarrer die Gefühle seiner Gemeinde.„Aber wir haben uns vor vier Monaten nicht unterkrieg­en lassen, und das wird diesmal genauso sein.“

Auf einer kleinen Grünfläche haben sich zur Mittagszei­t viele Menschen im Schatten großer Buchen niedergela­ssen. Nur eine Bank bleibt leer. Auf ihr wurden Anfang März die Skripals bewußtlos aufgefunde­n.

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FOTO: AP Ein Polizist bewacht in Salisbury einen „sichergest­ellten“Müllheimer.

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