Rheinische Post

Heute vor vier Jahren holt Deutschlan­d in Brasilien den Titel. Sonntag steht der Nachfolger fest.

- VON ROBERT PETERS

DÜSSELDORF/RIO Der Weg zum Titel führt über einen langen, ruhigen Fluss. Eine rostige Fähre schiebt sich rumpelnd und stampfend über den Rio Joao de Tiba. Auf der Fähre steht der Bus, in dem die Spieler der deutschen Nationalma­nnschaft sitzen. Sie haben das Campo Bahia verlassen. Mancher guckt ein bisschen wehmütig ins braune Wasser. Anders als vor knapp fünf Wochen. Da schaute so mancher irritiert in diese Flut. Längst ist das Camp im Dschungel ein Stück Heimat geworden, mit jedem Sieg bei der WM in Brasilien ein Stückchen mehr. In der Heimat gilt es als kuschelige Wohngemein­schaft und Basis der Erfolge. Das Campo Bahia ist bereits ein Mythos.

Zwei Tage später, es ist Sonntag, der 13. Juli 2014, sitzen die Spieler wieder in diesem Bus. Diesmal fährt er eine lange Straße durch Rio de Janeiro. Auf den Brücken stehen Sicherheit­skräfte, in den Seitenstra­ßen Panzer. Ein bisschen unwirklich ist den Spielern zumute. Dabei haben sie ihre Portion Unwirklich­keit schon unter der Woche abgeholt. Mit 7:1 haben sie ihr Halbfinale gegen den Gastgeber gewonnen. Und weil Brasilien gestern das Spiel um Platz drei mit 0:3 gegen die Holländer verloren hat, liegt nicht unbedingt Frohsinn über der Stadt.

Für die deutschen WM-Touristen soll sich das noch ändern. Und für die Brasiliane­r, die nur Zuschauer sind in einem Finale, in dem sie als Sieger vorgesehen waren, ändert es sich auch. Denn Deutsch- land gewinnt das Endspiel gegen Argentinie­n nach Verlängeru­ng mit 1:0. Argentinie­r können die Brasiliane­r fast noch weniger leiden als eigene Niederlage­n. Deshalb gibt die Mannschaft von Bundestrai­ner Joachim Löw dem brasiliani­schen Wochenende doch noch eine versöhnlic­he Note.

Das Finale von Rio ist kein Spektakel wie das Halbfinale von Belo Horizonte. Das hat auch niemand erwartet. Deutschlan­d ist der Favorit gegen die argentinis­che Auswahl, die allerdings anfangs mehr zu bieten hat als Lionel Messi. Die Südamerika­ner wirken konzentrie­rter, und sie verpassen die frühe Führung. Toni Kroos leistet sich seinen einzigen Aussetzer ausgerechn­et im Endspiel, als er mit einem Kopfball in die eigene Hälfte den Stürmer Gonzalo Higuain freispielt. Der ist so verdattert, dass er freistehen­d das Ziel verfehlt.

Deutschlan­ds erste Chance ist ein Kopfball von Benedikt Höwedes, der an den Pfosten fliegt. Daran ist zweierlei bemerkensw­ert. Erstens die Tatsache, dass Höwedes so weit vorn auftaucht. Zweitens, dass Höwedes zum siebten Mal bei diesem Turnier in der Startelf steht. Wer vier Jahre darauf in Russland den Mangel an Mentalität im deutschen Team beklagt, der findet in Höwedes im Rückblick auf Brasilien ein Stück personalis­ierte Mentalität. Löws Team hat in Brasilien nicht die besten Einzelspie­ler, keine Messis und Neymars, aber es hat Typen, mannschaft­sdienliche Typen.

Einer dieser Typen ist Bastian Schweinste­iger. Blutend steht er die Abwehrschl­acht am Ende durch, es ist ein Bild wie aus einer deutschen Sage. Ein anderer ist Jerome Boateng, der in Rio das Spiel seines Lebens macht. Der Verteidige­r wirft seinen Körper in argentinis­che Schüsse, er scheint in der Abwehr allgegenwä­rtig. Und die Kollegen ziehen sich an ihm hoch.

Mario Götze gilt an diesem Nachmittag im Juli schon lange nicht mehr als Typ. Er ist nicht mehr der Hoffnungst­räger, er kämpft bereits mit dem Abwärtstre­nd seiner Karriere. Der Mann, den Matthias Sammer als Sportdirek­tor des DFB noch das größte Talent des deutschen Fußballs nannte, ist nur noch Ergänzungs­spieler.

Aber er spielt ebenfalls eine Hauptrolle in Rio. Als Löw ihn aufs Feld schickt, sagt er ihm einen inzwischen legendären Satz ins Ohr. „Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi“, heißt dieser Satz. Götze zeigt derWelt, dass er an diesem Tag zumindest treffsiche­rer ist als Messi. Sein Assistent beim Tor, mit dem er sich einen Platz in den Chroniken des Weltfußbal­ls sichert, ist André Schürrle.

Er ist ebenso wie Götze eingewechs­elt worden, und man weiß nicht, was Löw ihm gesagt hat. Jedenfalls flankt Schürrle sieben Minuten vor Ende der Verlängeru­ng von der linken Seite. Götze lässt den Ball in einer einzigen fließenden Bewegung zunächst von der Brust auf den linken Fuß fallen und befördert ihn anschließe­nd mit einer Schusstech­nik, zu der tatsächlic­h nur die Hochbegabt­en in der Lage sind, ins Tor. Götze ist nun einer wie Helmut Rahn, Gerd Müller und Andreas Brehme, die Deutschlan­ds zurücklieg­ende WM-Titel mit ihren Toren ermöglicht­en.

Heute ist Götze immer noch erst 26 Jahre alt. Aber er arbeitet seit Langem vergeblich daran, seinem frühen Ruf gerecht zu werden. Schürrle geht es ähnlich. Er macht weniger durch fußballeri­sche Leistungen als durch hohe Ablösesumm­en auf sich aufmerksam. ImWM-Kader für Russland standen beide nicht.

Möglicherw­eise sind sie darum gar nicht mal so traurig. Denn weil nach dem grandiosen Scheitern des Weltmeiste­rs in derVorrund­e in den kommenden Wochen alles auf den Prüfstand soll, ergeben sich vielleicht neue Chancen für zwei unterdesse­n gefallene Helden von Rio.

Als es Abend wird nach dem Finale gegen Argentinie­n denkt im deutschen Team niemand an einen möglichen Niedergang. Löw fühlt sich ebenso am Ziel wie seine Spieler. Schweinste­iger rettet ein Stück von seiner Aura noch bis ins EM-Turnier in Frankreich zwei Jahre darauf. Boateng wird sogar in denVereini­gten Staaten richtig berühmt und bestens vermarktet. Und Philipp Lahm, der Kapitän der Weltmeiste­rmannschaf­t, macht etwas ganz Kluges. Er beendet seine Laufbahn als Nationalsp­ieler auf dem Höhepunkt der Karriere. Als die Spieler wieder im Bus sitzen, hat sich sogar der Nebel über der Bucht von Rio verzogen. Auf dem Weg ins Hotel könnten sie die Christus-Statue sehen. Aber dafür haben sie natürlich keinen Blick. Und die Miliz auf den Brücken sehen sie auch nicht.

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FOTO: REUTERS Mario Götze mit dem entscheide­nden Tor in der 113. Minute.
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FOTO: REUTERS Der abgekämpft­e „Schweini“freut sich mit Löw.
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FOTO: AP Hoch die Hände: Manuel Neuer, der beste Torhüter des Turniers.
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FOTO: AP WM-Rekordtors­chütze Miroslav Klose mit Kindern und Pokal.
 ?? FOTO: DPA ?? Christoph Kramer nach seinem K.o.: „Ist das hier das Finale?“
FOTO: DPA Christoph Kramer nach seinem K.o.: „Ist das hier das Finale?“
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FOTO: DPA Löw zu Götze: „Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi.“
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FOTO: IMAGO Joachim Löw spaziert am Strand von Santo Andres entlang.
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FOTO: DPA Riesiger Jubel bei Angela Merkel und Joachim Gauck.
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FOTO: IMAGO Große Enttäuschu­ng nach dem Abpfiff bei Lionel Messi.

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