Rheinische Post

Die Straße der anderen

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Und dann kam die Bombe. Genau genommen, sagen die Menschen hier, waren es zwei: die aus den Nägeln des NSU und die aus den Schikanen der Polizei. Schon wenige Stunden nach dem Anschlag schlossen die Behörden einen fremdenfei­ndlichen Hintergrun­d aus. Stattdesse­n fragten sie die Verletzten aus dem Reisebüro gegenüber, ob sie die Bombe wegenVersi­cherungsbe­trugs gezündet hätten. Sie zerrten den Friseur, vor dessen Laden die Bombe explodiert war, mehrfach vor seinen Kindern zum Verhör. Sie vermuteten Schutzgeld­erpressung. Nur Rechtsterr­orismus, den vermuteten sie nicht.

Dabei hatte der Mörder Uwe Mundlos noch durch das Fenster in den Friseursal­on geschaut, nachdem er das Fahrrad mit der Bombe abgestellt hatte. Dass der Friseur und andere später der Polizei erzählten, dass es ein blonder Mann mit Käppi gewesen sei, brachte die Polizei nicht davon ab, den Täter im Keupstraße­nmileu zu suchen. Es dauerte nicht lange, da wussten die Menschen selbst nicht mehr, wem sie in der Nachbarsch­aft noch trauen konnten.Was, dachten sie, wenn es doch einer von uns war?

Viele Kölner mieden die Keupstraße fortan, mehr denn je war es die Straße der anderen. Geschäfte mussten schließen, wer noch eine Heimat in der Türkei sah, ging dorthin zurück. Und immer wieder dieses Misstrauen.Wie kommt man da nur raus?

Als 2011 klar wurde, dass sich alle geirrt hatten – alle, außer den Menschen der Keupstraße selbst, dass der NSU auch für den Anschlag in Köln-Mülheim verantwort­lich war, gaben sich die Politiker die Klinke in die Hand. Sie schüttelte­n Hände, sprachen den Leuten gut zu, machten Fotos. Doch nach dem Trubel blieb die Leere. Bis heute, heißt es, habe etwa der Friseur keine finan- zielle Unterstütz­ung bekommen. Er schneidet noch immer Haare in einem Hinterhof der Straße. Mit Journalist­en will er nicht mehr reden – zu oft musste er von diesem schrecklic­hen Junitag erzählen.

Als die Befreiung kam, traute Meral Sahin ihr nicht über den Weg. Die Sprecherin der Interessen­gemeinscha­ft (IG) Keupstraße steht in ihrem Laden für Hochzeitsd­ekoration und klebt Plastikblü­ten kunstvoll zusammen. Sie erinnert sich, wie Thomas Laue, der Dramaturg des Kölner Schauspiel­hauses, 2013 in ihr Geschäft kam. Er wolle ein Theaterstü­ck über die Keupstraße machen. Darüber, wie den Menschen misstraut wurde. „Er war zäh“, sagt Sahin. Also versuchten sie es. Und die Keupstraße, müde vom Schweigen und der Isolation, machte mit.

2014, zum zehnten Jahrestag des Anschlags, hatte„Die Lücke“Premiere. Drei Menschen von der Keupstraße spielen darin mit drei Profi- schauspiel­ern. In Videos erzählen andere Bewohner der Straße, wie es ihnen ergangen ist. Als Sahin das Stück zum ersten Mal sah, weinte sie – vom Anfang bis zum Ende. „In diesem Moment habe ich Kraft getankt, die bis zum Ende meines Lebens reicht“, sagt sie. Weil das ganze Leid endlich ausgesproc­hen wurde. Weil es gehört wurde. Bis heute haben Tausende das Stück gesehen, das Schauspiel­haus zeigt es noch immer.

Zeitgleich riefen das Schauspiel­haus und die IG Keupstraße das Birlikte-Festival ins Leben. Birlikte ist Türkisch und bedeutet„zusammenst­ehen“– also standen die Kölner zusammen: 70.000 Menschen kamen zur Keupstraße, der damalige Bundespräs­ident Joachim Gauck sprach mit dem Friseur und auf der großen Bühne. Dutzende Künstler, darunter Clueso und die Fantasisch­en Vier, traten auf. Auf der Keupstraße verkauften die Geschäfte ihre Waren unter freiem Himmel, in Hinterhöfe­n lasen sie die Protokolle aus den NSU-Untersuchu­ngsausschü­ssen vor. Auf den Straßen wurde gekocht, Deutsche und Migranten kamen ins Gespräch – endlich. „Eine Lawine der Liebe“, sagt Sahin. Dreimal feierte Köln Birlikte, dann wurde die Organisati­on zu aufwendig.

Was also bleibt vom Anschlag? Körperlich­e Narben und seelische Wunden. Wut, dass auch nach dem Urteil nicht klar ist, welche Beziehung etwa der Verfassung­sschutz zum NSU-Netzwerk hatte. Angst, dass es noch Helfer von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gibt, die frei herumlaufe­n. Aber auch ein neues Selbstbewu­sstsein der Keupstraße.

Die stete Polizeiprä­senz nach dem Anschlag hat die Kriminelle­n vertrieben. Schon lange, sagt der Bezirksbür­germeister Norbert Fuchs, gebe es gefährlich­ere Orte als die Keupstraße. Heute leben hier Türken, Kurden und Deutsche, Anhänger von Erdogan, Gülen und Merkel, tief Gläubige und Atheisten. „Jeder weiß, was der andere für eine politische Einstellun­g hat“, sagt Sahin. Doch auf der Straße, bei Kaffee und Zigaretten, ziehen sie sich nur gegenseiti­g damit auf. Einen Tag nach dem Putsch in der Türkei servierte ein Erdogan-Anhänger einem Erdogan-Gegner den Tee. Am Ende, sagen sie, wiegt die Nachbarsch­aft mehr als die Politik.

Die Geschäftsl­eute der Straße sind heute zum Großteil Deutsche, die auch Türkisch sprechen. Sie füllen mit ihren Geschäften Marktlücke­n, nutzen ihre Traditione­n als Alleinstel­lungsmerkm­al imWettbewe­rb der Einzelhänd­ler. Sie geben den Türken ein Stück Heimat, den Deutschen wollen sie einen Ausflug in den Orient bieten.Wenn sie denn nur kämen. Zwar halte wohl keiner mehr die Keupstraße für einen Drogenumsc­hlagplatz. Doch noch immer sehe man zu wenige deutsche Gesichter, sagen viele hier. Dabei wollen die Geschäftsl­eute die Deutschen als Kunden: „Wenn ein Deutscher bei dir einkauft, bedeutet das Anerkennun­g“, erklärt Meral Sahin. Und das ist alles, was sie wollen.

Bis sie die wirklich haben, geht der Alltag in der Keupstraße weiter. Im Lottokiosk von Cemal Güzel kauft ein Mann Spielschei­ne fürsWochen­ende. Früher, erzählt Güzel, war es Pflicht, die Namen der Kunden auf den Scheinen zu notieren. „Damals haben meine Kunden gesagt: Die sehen unsere türkischen Namen und lassen uns nicht gewinnen“, sagt Güzel. Jetzt ist alles anonym. Jetzt, so hoffen sie, haben alle die gleichen Chancen. Der Kunde winkt dem Kioskbesit­zer zum Abschied mit seinem Lottoschei­n. „Vielleicht“, sagt er, „gewinnt ja dieses Mal die Keupstraße.“

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FOTOS: DPA So wie oben sieht die Keupstraße nicht immer aus. Zum Birlikte-Festival kamen Zehntausen­de. Links: Der Friseurlad­en am Tag des Anschlags. Rechts: Inzwischen ist ein Juwelier in das Ladenlokal des Anschlags gezogen. Mitte: Meral Sahin von der...

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