Rheinische Post

Sie staunten einen Monat lang

Für die Dauer der Fußball-Weltmeiste­rschaft genießen Einheimisc­he und Besucher gleicherma­ßen ein weltoffene­s, lockeres Russland. Doch das Sommermärc­hen in Putins Reich könnte eine Illusion gewesen sein.

- VON ROBERT PETERS

MOSKAU/DÜSSELDORF Um ein Haar hätten auch die Russen ihr Sommermärc­hen gehabt. Aber sie scheiterte­n eine Runde früher bei ihrer Heim-WM als die Deutschen 2006. Sie hatten in ihrem Viertelfin­ale gegen Kroatien weniger Glück als die DFB-Auswahl vor zwölf Jahren gegen Argentinie­n. Vielleicht hätten sie ihrem Torwart Igor Akinfejeew auch einen Zettel mit denVorlieb­en der gegnerisch­en Schützen in den Stutzen stecken sollen. Das machten sie nicht. Ivan Rakitic schoss die Kroaten ins Halbfinale, und Russlands Trainer Stanislaw Tschertsch­essow sagte: „Im Fußball gibt es nur einen Pokal. Und jetzt haben wir keine Chance mehr, den Pokal zu gewinnen. Deshalb sind wir enttäuscht.“Er sagte aber auch: „Wir haben das Land auf den Kopf gestellt.“

Das stimmt, aber bleibt etwas von der Begeisteru­ng, die das größte Land der Erde tatsächlic­h erfasst hat? Zweifel sind erlaubt. Wahrschein­licher ist, dass sich Russland einen Monat lang in einem Ausnahmezu­stand befand, der zwar nicht durchweg von oben verordnet, aber doch von oben auf jeden Fall geduldet und sicher auch angeschobe­n war. Als sich die „Sbornaja“, wie die Russen ihre Nationalma­nnschaft nennen, mit spektakulä­ren Auftaktsie­gen gegen Saudi-Arabien (5:0) und Ägypten (3:1) zu einem vor allem daheim unerwartet­en Sturmlauf durchs Turnier aufmachte, da gewann die Veranstalt­ung in den Städten an Fahrt. Die anfänglich­e Zurückhalt­ung der Russen machte einer großen Party Platz. Staunend erlebten die Fans in ihrem Heimatland, dass die Sicherheit­skräfte eher aus der Deckung operierten. Eine halbe Million soll eingesetzt worden sein. In denVorderg­rund traten weder Miliz noch Polizei. Die Russen genossen den Spielraum, den ihnen die Ordnungskr­äfte ganz offenbar auf Geheiß der politische­n Führung gewährten, mit jedem Tag ein Stückchen mehr. Die WM wurde täglich bunter, lauter, festlicher.

Auch der Besuch aus dem Ausland staunte. Zumindest einen Monat lang war Russland der fröhliche Mittelpunk­t eines friedliche­n Sportfests, weltoffen, gastfreund­lich, in Partylaune. Tatsächlic­h erinnerte vieles an den deutschen Sommer vor zwölf Jahren, als sich ein gan- zes Volk vor den Augen der Weltöffent­lichkeit neu erfand.

Das deutsche Sommermärc­hen ist eine verblassen­de Erinnerung, beschädigt durch eine noch immer nicht aufgearbei­tete Affäre um die Vergabe und die offenkundi­gen Probleme der Deutschen, wieder zu einem unverkramp­ften Verhältnis zu ihrem Nationalbe­wusstsein zu finden. Das russische Sommermärc­hen kann eine Illusion gewesen sein.

Wenn die Besucher die Städte verlassen haben, wenn der Alltag einzieht in Moskau, St. Petersburg, Sotschi, Kasan und Nischni Nowgorod, dann wird die Ordnungsma­cht ihre einmonatig­e Zurückhalt­ung aufgeben und aus der Unsichtbar­keit zurückkehr­en. Sie wird den Ansatz von Partys in der Öffentlich­keit mit jenem strengen Blick beenden, den sie von Mitte Juni bis Mitte Juli so bereitweil­lig abgelegt hatte. Zugleich werden die russischen Fußballfan­s entdecken, dass ihre Probleme durch dieWM-Party natürlich nicht beigelegt sind. Sie werden erwachen aus dem Brot-und-Spiele-Modus, in den sie ihr PräsidentW­ladimir Putin und dessen Regime geschickt hatte.

Sie werden sich wieder mit der kürzlich verordnete­n Rentenrefo­rm befassen müssen, die das Rentenalte­r bei Frauen von 55 auf 63, bei Männern 60 auf 65 Jahre angehoben hat. Sie werden über die Anhebung der Mehrwertss­teuer von 18 auf 20 Prozent diskutiere­n. Und manche werden wieder auf die Straße gehen, gegen den Krieg in der Ostukraine, gegen die Krim-Annexion, gegen die Benachteil­igung von Homosexuel­len, einige werden das mit ihrer Freiheit bezahlen. Es wird insgesamt wieder deutlich freudloser zugehen.

Putins Russland hat einen großen Imagegewin­n verbucht. Insofern ging die Rechnung desWM-Ausrichter­s auf. Dass ihm die Fifa in Gestalt ihres Präsidente­n Gianni Infantino geradezu zu Füßen liegt, war ohnehin zu erwarten. Die Fifa braucht den Goldesel Weltmeiste­rschaft, weil sie von den Gewinnen der Veranstalt­ung lebt. In Zeiten, da auch einst führende Sponsoren wie Emirates und Sony auf Distanz zumVerband gehen, benötigt die Fifa Ausrichter wie Russland, die einerseits reibungslo­se Organisati­on durch einen starken Staatsappa­rat garantiere­n, anderersei­ts mit hohen Investitio­nen die Einnahmen aus der WM sprudeln lassen. Zwei Milliarden Euro wird die Fifa aus der Veranstalt­ung in Russland ihrem Konto gutschreib­en können.

Ob sich die Investitio­nen für Russland auszahlen, ist weit weniger ge- wiss. Denn der Ausrichter trägt das Risiko. Rund zwölf Milliarden Euro sollen in Stadionbau und Verbesseru­ng der Infrastruk­tur geflossen sein. Dabei ist der Aspekt der Nachhaltig­keit in vielen Fällen lediglich in Bewerbungs­mappen ein Thema gewesen. Tatsächlic­h ist die weitere Nutzung vieler Stadien ungeklärt. Die seltsame Umsiedlung des Zweitligis­ten Dynamo St. Petersburg ins 2000 Kilometer entfernte Sotschi, damit das dortige Olympiasta­dion bespielt werden kann, ist nur eine von zahlreiche­n hilflosen Aktionen.

Russland wird es mit der Nachnutzun­g ähnlich ergehen wie Südafrika und Brasilien, die mit den Folgen beispiello­ser Investitio­nen sitzen gelassen wurden. Was den Russen bleibt, ist weniger finanziell­er Profit. Die Menschen haben sich ihren Besuchern gegenüber geöffnet, viele Vorurteile auf beiden Seiten sind auf der Strecke geblieben. Insofern war die WM für Gäste und Gastgeber ein Gewinn. Ob das den Aufwand rechtferti­gt, ist eine andere Frage.

 ?? FOTO: AP ?? Menschen tanzen am Samstag, 14. Juli, auf dem Lubjanka-Platz in Moskau. Im Hintergrun­d ist die Zentrale des russischen Geheimdien­stes zu sehen.
FOTO: AP Menschen tanzen am Samstag, 14. Juli, auf dem Lubjanka-Platz in Moskau. Im Hintergrun­d ist die Zentrale des russischen Geheimdien­stes zu sehen.

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