Sie staunten einen Monat lang
Für die Dauer der Fußball-Weltmeisterschaft genießen Einheimische und Besucher gleichermaßen ein weltoffenes, lockeres Russland. Doch das Sommermärchen in Putins Reich könnte eine Illusion gewesen sein.
MOSKAU/DÜSSELDORF Um ein Haar hätten auch die Russen ihr Sommermärchen gehabt. Aber sie scheiterten eine Runde früher bei ihrer Heim-WM als die Deutschen 2006. Sie hatten in ihrem Viertelfinale gegen Kroatien weniger Glück als die DFB-Auswahl vor zwölf Jahren gegen Argentinien. Vielleicht hätten sie ihrem Torwart Igor Akinfejeew auch einen Zettel mit denVorlieben der gegnerischen Schützen in den Stutzen stecken sollen. Das machten sie nicht. Ivan Rakitic schoss die Kroaten ins Halbfinale, und Russlands Trainer Stanislaw Tschertschessow sagte: „Im Fußball gibt es nur einen Pokal. Und jetzt haben wir keine Chance mehr, den Pokal zu gewinnen. Deshalb sind wir enttäuscht.“Er sagte aber auch: „Wir haben das Land auf den Kopf gestellt.“
Das stimmt, aber bleibt etwas von der Begeisterung, die das größte Land der Erde tatsächlich erfasst hat? Zweifel sind erlaubt. Wahrscheinlicher ist, dass sich Russland einen Monat lang in einem Ausnahmezustand befand, der zwar nicht durchweg von oben verordnet, aber doch von oben auf jeden Fall geduldet und sicher auch angeschoben war. Als sich die „Sbornaja“, wie die Russen ihre Nationalmannschaft nennen, mit spektakulären Auftaktsiegen gegen Saudi-Arabien (5:0) und Ägypten (3:1) zu einem vor allem daheim unerwarteten Sturmlauf durchs Turnier aufmachte, da gewann die Veranstaltung in den Städten an Fahrt. Die anfängliche Zurückhaltung der Russen machte einer großen Party Platz. Staunend erlebten die Fans in ihrem Heimatland, dass die Sicherheitskräfte eher aus der Deckung operierten. Eine halbe Million soll eingesetzt worden sein. In denVordergrund traten weder Miliz noch Polizei. Die Russen genossen den Spielraum, den ihnen die Ordnungskräfte ganz offenbar auf Geheiß der politischen Führung gewährten, mit jedem Tag ein Stückchen mehr. Die WM wurde täglich bunter, lauter, festlicher.
Auch der Besuch aus dem Ausland staunte. Zumindest einen Monat lang war Russland der fröhliche Mittelpunkt eines friedlichen Sportfests, weltoffen, gastfreundlich, in Partylaune. Tatsächlich erinnerte vieles an den deutschen Sommer vor zwölf Jahren, als sich ein gan- zes Volk vor den Augen der Weltöffentlichkeit neu erfand.
Das deutsche Sommermärchen ist eine verblassende Erinnerung, beschädigt durch eine noch immer nicht aufgearbeitete Affäre um die Vergabe und die offenkundigen Probleme der Deutschen, wieder zu einem unverkrampften Verhältnis zu ihrem Nationalbewusstsein zu finden. Das russische Sommermärchen kann eine Illusion gewesen sein.
Wenn die Besucher die Städte verlassen haben, wenn der Alltag einzieht in Moskau, St. Petersburg, Sotschi, Kasan und Nischni Nowgorod, dann wird die Ordnungsmacht ihre einmonatige Zurückhaltung aufgeben und aus der Unsichtbarkeit zurückkehren. Sie wird den Ansatz von Partys in der Öffentlichkeit mit jenem strengen Blick beenden, den sie von Mitte Juni bis Mitte Juli so bereitweillig abgelegt hatte. Zugleich werden die russischen Fußballfans entdecken, dass ihre Probleme durch dieWM-Party natürlich nicht beigelegt sind. Sie werden erwachen aus dem Brot-und-Spiele-Modus, in den sie ihr PräsidentWladimir Putin und dessen Regime geschickt hatte.
Sie werden sich wieder mit der kürzlich verordneten Rentenreform befassen müssen, die das Rentenalter bei Frauen von 55 auf 63, bei Männern 60 auf 65 Jahre angehoben hat. Sie werden über die Anhebung der Mehrwertssteuer von 18 auf 20 Prozent diskutieren. Und manche werden wieder auf die Straße gehen, gegen den Krieg in der Ostukraine, gegen die Krim-Annexion, gegen die Benachteiligung von Homosexuellen, einige werden das mit ihrer Freiheit bezahlen. Es wird insgesamt wieder deutlich freudloser zugehen.
Putins Russland hat einen großen Imagegewinn verbucht. Insofern ging die Rechnung desWM-Ausrichters auf. Dass ihm die Fifa in Gestalt ihres Präsidenten Gianni Infantino geradezu zu Füßen liegt, war ohnehin zu erwarten. Die Fifa braucht den Goldesel Weltmeisterschaft, weil sie von den Gewinnen der Veranstaltung lebt. In Zeiten, da auch einst führende Sponsoren wie Emirates und Sony auf Distanz zumVerband gehen, benötigt die Fifa Ausrichter wie Russland, die einerseits reibungslose Organisation durch einen starken Staatsapparat garantieren, andererseits mit hohen Investitionen die Einnahmen aus der WM sprudeln lassen. Zwei Milliarden Euro wird die Fifa aus der Veranstaltung in Russland ihrem Konto gutschreiben können.
Ob sich die Investitionen für Russland auszahlen, ist weit weniger ge- wiss. Denn der Ausrichter trägt das Risiko. Rund zwölf Milliarden Euro sollen in Stadionbau und Verbesserung der Infrastruktur geflossen sein. Dabei ist der Aspekt der Nachhaltigkeit in vielen Fällen lediglich in Bewerbungsmappen ein Thema gewesen. Tatsächlich ist die weitere Nutzung vieler Stadien ungeklärt. Die seltsame Umsiedlung des Zweitligisten Dynamo St. Petersburg ins 2000 Kilometer entfernte Sotschi, damit das dortige Olympiastadion bespielt werden kann, ist nur eine von zahlreichen hilflosen Aktionen.
Russland wird es mit der Nachnutzung ähnlich ergehen wie Südafrika und Brasilien, die mit den Folgen beispielloser Investitionen sitzen gelassen wurden. Was den Russen bleibt, ist weniger finanzieller Profit. Die Menschen haben sich ihren Besuchern gegenüber geöffnet, viele Vorurteile auf beiden Seiten sind auf der Strecke geblieben. Insofern war die WM für Gäste und Gastgeber ein Gewinn. Ob das den Aufwand rechtfertigt, ist eine andere Frage.