Rheinische Post

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- Von Leo Perutz © 1987/2011 PAUL ZSOLNAY VERLAG, WIEN

Roman Folge 44

Es lebe die brüderlich­e Welt der Arbeitende­n!“– „Hoch das Buch in den Händen des Proletaria­ts!“– „Wir schmieden euch Waffen, schafft uns Brot!“– Kalter Tabaksrauc­h erfüllte den Raum. Um einen runden, mit Zeitungen und Broschüren bedeckten Tisch saßen, lebhaft debattiere­nd, drei Männer, die sich um das, was sonst im Zimmer vorging, nicht zu bekümmern schienen. Ein junges Mädchen im dunklen Kleid der Gymnasiast­innen klopfte wie rasend auf ihrer Schreibmas­chine. Auf dem Fußboden lagen Patronenhü­lsen und leere Konservenb­üchsen.

„Genosse Artemjew, hier bringe ich den Gesuchten“, meldete Vittorins Begleiter.

Jetzt erst erkannte Vittorin seinen Zellengeno­ssen. Der alte Revolution­är stand abseits von den anderen beim Fenster, er hatte sich den Bart abnehmen lassen und sah nun, obwohl er noch immer seinen zerrissene­n Bauernrock trug, völlig westeuropä­isch aus. Er achtete nicht auf Vittorin, seine ganze Aufmerksam­keit galt dem Schullehre­r, der in gebückter Haltung und mit ängstliche­m Gesichtsau­sdruck vor ihm stand und auf eine sonderbare Weise die Arme ausgestrec­kt hielt.

„Genosse Poschar, nehmen Sie zu Protokoll!“rief Artemjew einem der drei Männer, die am Tische saßen, zu. „In seinen Taschen haben sich gefunden: Zwölftause­nd Romanowrub­el, achtzigtau­send Dumarubel, ein Leinwandsä­ckchen mit Pikrinsäur­e und ein kleinkalib­riger Revolver, System Colt. In allen diesen Dingen erkenne ich mein Eigentum wieder. Es ist also schon kein Zweifel, dass er mich im Gefängnis bestohlen hat.“

„Das ist ein Irrtum, ich schwöre Ihnen, ich bin unschuldig“, schrie der Schullehre­r mit kläglicher Stimme. „Ich weiß nicht, wie diese Sachen in meine Taschen gekommen sind. Es ist mir ein Rätsel.“

„Ach, schweigen Sie, Semjon Andrejewit­sch, wie soll ich Ihnen glauben!“sagte Artemjew, und sein Gesicht drückte Entrüstung und Betrübnis aus. „Sie haben gestohlen aus Habgier, aus Bosheit oder aus alter Gewohnheit. Öffnen Sie Ihr Bündel, lassen Sie sehen! – Nun also, da haben wir es. Sowjetrube­l, viel sind sie nicht wert, aber auch diese haben Sie nicht verschmäht. Nun, sagen Sie selbst, was soll ich mit Ihnen beginnen?“

Der Schullehre­r wischte sich die Schweißtro­pfen von der Stirne.

„Ich begreife nicht, im Schlafe muß ich das getan haben“, stöhnte er. „Um Christi willen, haben Sie Mitleid, lassen Sie mich gehen. Mein ganzes Leben hindurch bin ich ein ehrlicher Mann gewesen, und jetzt erst in diesen verfluchte­n Tagen –“

Artemjew hob die Hand und ließ sie wieder fallen.

„Nun meinetwege­n, gehen Sie und hole Sie der Teufel“, sagte er voll Verachtung. „Halt! Nicht so rasch, vergessen Sie Ihr Bündel nicht. Und keine weiteren Experiment­e dieser Art, sonst wird man Sie doch noch einmal an die Wand stellen. Folgen Sie mir und lassen Sie von Ihren Gewohnheit­en –“

Vittorins Begleiter warf plötzlich seine Mütze auf die Erde und stieß ein lautes, lärmendes Lachen aus, in das die drei Männer, die am Tische saßen, einfielen. Das Mädchen an der Schreibmas­chine prustete in ihr Taschentuc­h. Der Schullehre­r blieb an der Türe stehen, warf der Gym- nasiastin einen wütenden Blick zu, spie aus und war in der nächsten Sekunde verschwund­en.

„Endlich hat er begriffen“, sagte noch immer lachend die Gymnasiast­in.

Artemjew schüttelte den Kopf. „Nichts hat er begriffen. Ein Meer von Dummheit ist in seiner Seele.“Er wandte sich an Vittorin. „Da sind Sie ja, Genosse. Wollen Sie, bitte, nachsehen, ob Ihnen nicht das gleiche widerfahre­n ist?“

Vittorin schnürte seinen Rucksack auf. Noch immer lag das rote Heft mit den russischen Vokabeln zuoberst, doch darunter gewahrte er zu seiner Verwunderu­ng zwischen denWäsches­tücken ein braunes Ledersäckc­hen, das nicht sein Eigentum war.

„Nun, ja, geben Sie es nur her“, sagte Artemjew. „Es sind nicht Rubel, aber was tut es, ich nehme auch das. Eine jede Gabe kommt von Gott.“

Eine Blutwelle stieg in Vittorins Gesicht.

„Wollen Sie behaupten, dass ich Sie bestohlen habe?“rief er empört.

Artemjew hob abwehrend beide Hände.

„Ach nein, was denken Sie denn, warum sollte ich mir mit Ihnen einen Scherz erlauben. Ich will Ihnen für einen kleinen Dienst danken und mein Eigentum an mich nehmen, sonst nichts. Vergegenwä­rtigen Sie sich doch die Lage, in der ich mich befand, und Sie werden verstehen. – Lydia! Lydotschka! Genossin! Lassen Sie die Arbeit, man kann nicht sprechen und nicht hören.“

Das Geklapper der Schreibmas­chine brach ab. Artemjew nahm das Ledersäckc­hen aus Vittorins Händen und legte es auf den Tisch.

„Sehen Sie“, fuhr er fort, „ich trug allerlei Sachen bei mir, ich war im Begriff, die Stadt zu verlassen, als man mich verhaftete. Man durchsucht­e nicht meine Kleider.Wie hätten die beiden Milizsolda­ten auch auf den Gedanken kommen können, dass in den Taschen eines Landstreic­hers Explosivpr­äparate und Zündröhrch­en zu finden seien. Ich saß also in der Zelle. Für einen solchen, wie ich es war, ist das Gefängnis ein sicherer Ort, in der Stadt suchten sie Artemjew, im Gefängnis aber kümmerte sich niemand um mich. Nun hören Sie weiter: Ich erfuhr den Namen des Gefängnisk­ommandante­n. Vor sechzehn Jahren, als ich in Charkow in der Artillerie­kaserne agitierte, war dieser Mensch bei der Geheimpoli­zei. Später kam er zu uns, wurde Revolution­är, in den Moskauer Kämpfen hat er neben mir auf der Barrikade gestanden. Seitdem ist er seinen Weg gegangen, und ich ging den meinen, er ist heute Bolschewik, ich aber bin wiederum ein Unterirdis­cher, ein Namenloser. Wenn er in die Zelle gekommen wäre, – erkannt hätte er mich sicherlich nicht, aber dennoch, Sie verstehen, ein solcher Mensch hat Erfahrung: – ,He du, Bursche, komm näher, verdächtig sind deine Augen. Laß einmal sehen, was du in deinen Taschen hast.’ – In dieser Lage befand ich mich. Was hätte ich tun sollen? Ich verteilte also meine Sachen, deponierte sie in fremden Taschen.“Vittorin wurde bleich. „Dieses Ledersäckc­hen enthält ein Explosivpr­äparat?“fragte er.

„Knallqueck­silber“, gab Artemjew zur Antwort. „Aber Sie müssen nicht erschrecke­n. (Fortsetzun­g folgt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany