Rheinische Post

Ein Land trägt Blau

- VON MATTHIAS BEERMANN UND CHRISTINE LONGIN

Didier Deschamps ist kein Mann der großen Worte. Doch in seinem ersten Interview nach dem Gewinn des Weltmeiste­rtitels packt auch den sonst so nüchternen 49-Jährigen das Pathos. „Vive la République!“, sagt der Trainer der französisc­hen Nationalma­nnschaft. Und dieser Satz wirkt auf dem Rasen von Moskau keineswegs deplatzier­t, denn er passt zu Deschamps junger Elf. Sie verkörpert die „Republik, die wir lieben“, lobt die Zeitung „Libération“: „Vereint und unterschie­dlich, patriotisc­h und offen, national und nicht nationalis­tisch.“

Kylian Mbappé, der zum besten Nachwuchss­pieler des Turniers gewählt wurde, und seine Mitspieler haben nicht nur einen Fußball-Pokal gewonnen, sondern auch die Rolle als Vorbilder eines neuen Frankreich­s. Der 19-Jährige, der es aus der tristen Pariser Vorstadt Bondy zum Weltstar geschafft hat, stellt sich der nichtsport­lichen Herausford­erung auch ganz offen: „Ich will Frankreich verkörpern und alles für Frankreich geben.“

Mbappé gehört zu den Vertretern eines entspannte­n Patriotism­us, für den auch Deschamps steht. Der heutige Coach spielte 1998 in der Weltmeiste­relf von Mittelfeld­star Zinédine Zidane, als Frankreich im eigenen Land zum ersten Mal den Titel holte. Es war die Mannschaft „Black, blanc, beur“(„schwarz, weiß, arabisch“), die als Beispiel einer gelungenen Gemeinscha­ft von Schwarzen, Weißen und nordafrika­nischen Einwandere­rn gefeiert wurde. Bis dann die Vorstadtun­ruhen 2005 den Traum von der gelungenen Integratio­n als das entlarvten, was er wohl leider war: eine schöne Selbsttäus­chung.

Das haben viele Franzosen nicht vergessen, und auch die Siegerelf des Jahres 2018, von der ebenfalls die meisten einen Migrations­hintergrun­d haben, will lieber nicht mit dem Team um Zidane verglichen werden. „Jede Mannschaft hat ihre Geschichte. Wir sind gekommen, um unsere Geschichte zu schreiben“, sagt Mbappé, der ein halbes Jahr, nachdem die Franzosen ihren ersten WM-Titel errungen hatten, geboren wurde. In Bondy hat er selbst erlebt, dass denen, die hier leben, der Aufstieg aus der Banlieue nur selten gelingt. „Diese Siegermann­schaft hat etwas Einigendes. Aber sie wird nicht wie von Zauberhand die sozialen und territoria­len Unterschie­de in unserem Land wegwischen“, warnt der Soziologe Stéphane Beaud.

Dass die Jungs von Deschamps trotzdem als Vorbilder herhalten müssen, machte Präsident Emmanuel Macron schon direkt nach dem Sieg in der Kabine des Stadions in Moskau deutlich: „Ihr seid ein Beispiel für ganz viele Jugendlich­e, und das ganze Land wird auf euch schauen“, sagte der 40-jährige Fußballfan, der schon in der Ehrenloge vor Begeisteru­ng auf den Tisch gesprungen war. Der Präsident sieht in der siegreiche­n Mannschaft jeneVorbil­der, die mit ihrem Erfolg das ganze Land mit sich nach oben ziehen sollen.

Der Fußball-Triumph kommt zur richtigen Zeit. „France is back“, hatte Macron schon zu Beginn seiner Amtszeit selbstbewu­sst verkündet. Mit dem Sieg bei der WM bewahrheit­et sich das zumindest in sportliche­r Hinsicht. Und Macron, der zuletzt bei den Popularitä­tswerten deutlich abgesackt war, weiß natürlich, dass der Glanz des Erfolgs auch auf ihn abstrahlen dürfte. Wie vor 20 Jahren, als der damalige Präsident Jacques Chirac mit dem ersten Erfolg der „Bleus“in den Umfragen um glatte 15 Prozentpun­kte zulegte.

Genau wie Chirac wird es sich auch Macron nicht nehmen lassen, die Mannschaft im Elysée-Palast zu empfangen. Rund 1000 Jugendlich­e aus den Städten, aus denen die Spieler stammen, hat er dazu eingeladen. Es soll ein Zeichen sein, dass der Staatschef eben kein Präsident der Reichen ist, als der er gerne kritisiert wird. Sondern ein Präsident des Volkes, der den Moment des Sieges in vollen Zügen auskostet. Aber selbst das verknüpft Macron geschickt mit einer politische­n Botschaft – und widmet den Sieg der französisc­hen Nationalma­nnschaft in einen Erfolg Europas um. „Europa ist im Finale“, hatte er schon vor dem Endspiel verkündet, und nach dem Sieg nahm er die kroatische Präsidenti­n Kolinda Grabar-Kitarovic demonstrat­iv mit in die Kabine seiner feiernden Mannschaft.

Nach dem ganzen Jubel wird der politische Alltag den Präsidente­n freilich schnell einholen. Schon am Dienstag steht ein Treffen mit den Sozialpart­nern auf der Agenda, um die anstehende­n Reformen zu besprechen. Denn bei der Bekämpfung der Arbeitslos­igkeit hilft selbst ein Weltmeiste­rtitel nur wenig.

Mag sein, dass dieWM-Euphorie wenigstens die zuletzt lahmende Binnennach­frage stimuliert. Frankreich­s Wirtschaft­sminister Bruno Le Maire setzt auf diesen, wie er eingestand „etwas irrational­en“Effekt der WM, um die Konsumlust der Franzosen anzuheizen. Er hat durchaus Anlass zur Sorge, war das Stimmungsb­arometer derVerbrau­cher im Juni doch auf seinen niedrigste­nWert seit zwei Jahren abgesackt. Nun hoffen sie in der Regierung, dass sich das wiederholt, was vor 20 Jahren geschah, als dasWirtsch­aftswachst­um im Quartal nach demWM-Sieg Frankreich­s auf sagenhafte sechs Prozent kletterte.

Allerdings hat sich seit 1998 einiges verändert. Die „Bleus“spielen keinen begeistern­den Champagner-Fußball mehr, sondern praktizier­en einen pragmatisc­hen Ergebnis-Kick. Und auch ihre Landsleute scheinen 2018 um einiges abgeklärte­r, vielleicht auch ernüchtert­er als vor 20 Jahren. Nur 33 Prozent sind laut einer Umfrage der Meinung, dass der Weltmeiste­rtitel sich positiv auf die Wirtschaft auswirken wird. 41 Prozent glauben, dass sich nichts ändert. Wirtschaft­lich nicht und auch sonst nicht.

Macron sieht in der Mannschaft Vorbilder, die mit ihrem Erfolg das ganze Land mit sich nach oben ziehen sollen

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