Rheinische Post

Blutiges Begräbnis einer Revolution

Nicaragua war einmal Sehnsuchts­modell der linksliber­alen Spät-68er. Jetzt führt das sandinisti­sche Ortega-Regime einen blutigen Krieg gegen das eigene Volk.

- VON TOBIAS KÄUFER

RIO DE JANEIRO Fast jedes Wochenende, so scheint es, gibt es Tote in Nicaragua. Mindesten zehn Menschen waren es nach Angaben einer Menschenre­chtsorgani­sation am vergangene­n Wochenende, an jenem davor neun allein in Diriamba.

Am schwersten sei die Stadt Masaya getroffen, die rund 27 Kilometer von Nicaraguas Hauptstadt Managua entfernt liegt, sagte der Leiter der Menschenre­chtsorgani­sation ANPDH, Álvaro Leiva, im nicaraguan­ischen Fernsehen. Die Lage sei sehr ernst. Es müssten Korridore geöffnet werden, um Verletzte aus der Gefahrenzo­ne bringen zu können, erklärte Leiva. „Wir können im Moment keine Verletzten in Sicherheit bringen.“Masaya sei blockiert. „Es gibt keinen Weg rein und keinen raus“, sagte Leiva. Den Verletzten medizinisc­heVersorgu­ng zu verweigern, käme einem Verbrechen gleich.

Es ist ein weiterer Tiefpunkt in den seit Wochen anhaltende­n Unruhen in dem mittelamer­ikanischen Land. Trotz der über 300 Toten seit Beginn der Massenprot­este Mitte April ist Staatspräs­ident Daniel Ortega nicht bereit, auf den Vorschlag der Kirche und der „Allianz der Zivilgesel­lschaft“einzugehen, die Präsidents­chaftswahl­en vorzuziehe­n.

Nicaragua und seine Sandiniste­n waren einmal ein linkes Vorzeigemo­dell. Tatsächlic­h gelang es in den ersten Jahren des Sandinismu­s die Weichen für soziale Errungensc­haften zu stellen: Bildung, Gesundheit­swesen, Versorgung­slage waren besser als in den bettelarme­n Nachbarlän­dern El Salvador, Guatemala und Honduras aus denen sich jedes Jahr immer wieder Zehntausen­de in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Weg in die USA machen – ohne gültige Aufenthalt­spapiere. Doch Jahr für Jahr verwandelt­e sich Ortega mehr in einen Oligarchen. Die Kinder des Präsidente­npaares kontrollie­ren die wichtigste­n staatliche­n TV-Sender, seine Familie ist an vielen Staatsunte­rnehmen beteiligt. Er hebelte mit juristisch­en Tricks die Verfassung aus, ließ aussichtsr­eichen Gegnern die Teilnahme an den Wahlen verbieten. Ortegas Frau und Vizepräsid­entin Rosario Murillo spricht jeden Tag zur Mittagszei­t in einem bizarren Programm zum Volk. Die Gewalt in Diriamba begründete sie damit, „Licht und Liebe“zurückzubr­ingen. Für Murillo sind die Regierungs­gegner „Vampire“, die für die Gewalt verantwort­lich seien.

Es hat sich über Jahre viel Wut aufgestaut in Nicaragua. Der Funke, der das Fass zum Überlaufen brachte, war eine drastische Rentenkürz­ung im April. Nicht zum ersten Mal ließ Ortega die Proteste niederknüp­peln. Inzwischen machen Ortegas Schlägertr­upps gezielt Jagd auf Opposition­elle. Deren Verletzung­en – oft Kopfschüss­e – weisen auf außergeric­htliche Hinrichtun­gen hin, wie Amnesty Internatio­nal berichtet. Inzwischen greifen auch opposition­elle Kräfte zu brutaler Gewalt, mindestens zwölf Polizisten bezahlten ihren Einsatz mit dem Leben. Der Kreislauf der Gewalt droht in einen Bürgerkrie­g zu münden. mit dpa

 ?? FOTO: DPA ?? Ein Student, der vor regierungs­nahen Paramilitä­rs in eine Kirche flüchtete, wird nach der Belagerung von einer Verwandten umarmt.
FOTO: DPA Ein Student, der vor regierungs­nahen Paramilitä­rs in eine Kirche flüchtete, wird nach der Belagerung von einer Verwandten umarmt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany