Rheinische Post

Die WM als Warnung für die Bundesliga

Anstatt das Spiel mit dem Ball einzustudi­eren, wollten viele Trainer bei der Weltmeiste­rschaft nur Fußball verhindern. Es bleibt zu hoffen, dass die Trainer in Deutschlan­d diesen Trend nicht als Rechtferti­gung für ihre eigene defensive Taktik sehen.

- VON TOBIAS ESCHER

DÜSSELDORF Das Fazit nach dieser Weltmeiste­rschaft fällt zwiespälti­g aus. Wir haben einige tolle Spiele erlebt: Belgiens Last-Minute-Drama gegen Japan sticht heraus, auch die hochklassi­gen Duelle zwischen Frankreich und Argentinie­n sowie Belgien und Brasilien bleiben in Erinnerung. Allerdings entpuppten sich die meisten Spiele dieser WM als zähe Defensivsc­hlachten. Was bleibt von derWM in Russland?

Aus taktischer Sicht lag der Fokus ganz klar auf der Defensive. Weltmeiste­r Frankreich steht sinnbildli­ch für die Vorgehensw­eise vieler Nationen: Alle französisc­hen Spieler mussten Defensivau­fgaben erfüllen. Zu jeder Zeit standen sechs, manchmal sogar sieben Franzosen hinter dem Ball. Dem Gegner Räume bieten für Konter? Auf gar keinen Fall! Frankreich­s Trainer Didier Deschamps stellte die Defensive derart in den Fokus, dass Stürmer Oliver Giroud am Ende des Turniers mehr gelungene Defensivak­tionen als Torschüsse vorzuweise­n hatte.

Die Absicherun­g gegen Konter ist das wohl wichtigste taktische Thema dieser WM. Viele Nationen rückten nicht mit mehr Spielern auf als nötig. Solche, die doch offensiv dachten, wurden gnadenlos ausgekonte­rt. In erster Linie wäre hier natürlich die deutsche Mannschaft zu nennen. Gegen Mexiko mussten Mats Hummels und Jerome Boateng häufig alleine Situatione­n lösen. Dieses Modell scheint keine Zukunft zu haben im Weltfußbal­l.

Auch das Gegenpress­ing fokussiert­en viele Teilnehmer. Hier waren wieder einmal die Franzosen die Vorreiter. Aber auch die Zweitplatz­ierten Kroaten bewiesen, wie wichtig ein direktes Nachsetzen nach Ballverlus­ten ist. Somit lässt sich effektiv verhindern, dass der Gegner den ersten Pass nach vorne spielen kann. Auch wenn ein hohes Pressing nicht das dominieren­de taktische Modell dieser WM war: Ein Gegenpress­ing nach Ballverlus­ten wagten alle großen Teilnehmer. Diese taktische Facette ist aus dem Fußball nicht mehr wegzudenke­n.

Auffällig bei diesem Turnier war zudem, wie tief viele Teams verteidigt­en. Das Pressing im Mittelfeld, vor vier Jahren noch von fast allen Teilnehmer­n praktizier­t, stirbt aus. Viele Teams stören nach Ballverlus- ten kurz in der gegnerisch­en Hälfte, ziehen sich dann aber an den eigenen Strafraum zurück. Das kollektive Verschiebe­n im Mittelfeld trauen sich nur wenige Teams. Einerseits ist diese Variante sehr kräftezehr­end. Die Russen, die solch ein Mittelfeld­pressing favorisier­ten, liefen mit ihrer Strategie mehr als jeder andere WM-Teilnehmer.

Anderersei­ts spekuliert­en viele Teilnehmer auf die fehlende Offen- sivstärke ihrer Gegner. Viele Teams konnten es sich leisten, am eigenen Strafraum zu verteidige­n – der Gegner fand keine Lösungen gegen die kompakt verteidigt­en Defensivre­ihen. Nicht nur Deutschlan­d oder Spanien taten sich schwer. Selbst Weltmeiste­r Frankreich schloss die Gruppenpha­se mit einem Torverhält­nis von 3:1 ab. Der Weltmeiste­r brillierte im Ballbesitz­spiel ebenso wenig wie nahezu alle anderen WM-Teilnehmer.

Es bleibt zu hoffen, dass die Bundesliga dieses Turnier nicht als Rechtferti­gung für die eigene defensive Spielweise sieht. Obwohl die Trainer in der Bundesliga durchaus Zeit hätten, ausgeklüge­lte Offensivsy­steme einzustudi­eren, fokussiert­en in den vergangene­n Jahren die meisten Bundesligi­sten die Defensive. In der Bundesliga verteidige­n die Teams zwar höher als bei der Weltmeiste­rschaft. Dennoch steht bei vielen Teams das Ballgewinn­en auf der Prioritäte­nliste vor dem Ballvertei­len. Diese Weltmeiste­rschaft bewies jedoch: Ohne eigene Idee, wie man Tore schießen will, scheidet man früh aus.

Insofern dürfte ein anderer taktischer Trend für die Bundesliga interessan­ter sein: die Standardsi­tuationen. Nahezu ein Drittel aller Tore fielen nach Ecken oder Freistößen. Weltmeiste­r Frankreich erzielte jeweils im Viertelfin­ale, im Halbfinale und im Finale den Führungstr­effer nach einem ruhenden Ball. Halbfinali­st England verließ sich fast gänzlich auf die eigene Stärke nach ruhenden Bällen. Gerade in engen, defensiv geprägten Spielen können Standards ein entscheide­nder Faktor sein.

In Deutschlan­d herrscht hier noch Nachholbed­arf; nicht nur in der Nationalma­nnschaft, sondern auch in der Bundesliga. Gerade die Spitzentea­ms der Liga vernachläs­sigen dieses Thema. Dabei lassen sich Varianten bei Standards relativ leicht einstudier­en. Die Engländer zeigten mit ihrem sogenannte­n „Love Train“, wie man einen kopfballst­arken Spieler freiblocke­n kann. Hierzu reihten sich die Engländer hintereina­nder auf, als würden sie auf dem Amt Schlange stehen. Kurz bevor der Eckball in den Strafraum gelangt, schwärmen sie in alle Himmelsric­htungen aus. Diese Variante dürften wir in der kommenden Saison auch in der Bundesliga zu sehen bekommen.

Von solchen Details abgesehen dürfte sich kaum ein Bundesliga-Trainer von dieser Weltmeiste­rschaft inspiriere­n lassen. Die defensiven Taktiken des Turniers beherrsche­n die meisten Trainer bereits aus dem Effeff. Offensiv wiederum bot dieses Turnier nur wenige taktische Überraschu­ngen. Wer weiß, vielleicht nimmt der ein oder andere Trainer diese defensiv geprägteWe­ltmeisters­chaft zum Anlass, seinen eigenen Stil zu überdenken. Denn auch wenn eine stabile Defensive Erfolge verspricht: Allzu positiv werden sich nur die Wenigsten an dieses Turnier zurückerin­nern. Erfolg ist eben manchmal nicht alles.

Tobias Escher ist Mitbegründ­er des Taktikblog­s „Spielverla­gerung.de“, das zahlreiche Auszeichnu­ngen erhalten hat.

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FOTO: AP Moment des Glücks: Frankreich­s Trainer Didier Deschamps küsst den WM-Pokal nach dem gewonnenen Finale gegen Kroatien am Sonntag im Moskauer Lushniki-Stadion.

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